Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend

„Ich geh jetzt nach Hause,“ sagte er, und zog im Regen seinen Lodenmantel fester zusammen. „Ich möchte dir nur eins nochmals sagen, weil wir schon so weit sind — du solltest diesen Kerl loswerden! Wenn es gar nicht anders geht, dann schlage ihn tot! Es würde mir imponieren und gefallen, wenn du es tätest. Ich würde dir auch helfen.“

Ich bekam von neuem Angst. Die Geschichte von Kain fiel mir plötzlich wieder ein. Es wurde mir unheimlich, und ich begann sachte zu weinen. Zu viel Unheimliches war um mich her.

„Nun gut,“ lächelte Max Demian. „Geh nur nach Hause! Wir machen das schon. Obwohl Totschlagen das Einfachste wäre. In solchen Dingen ist das Einfachste immer das Beste. Du bist in keinen guten Händen bei deinem Freund Kromer.“

Ich kam nach Hause, und mir schien, ich sei ein Jahr lang weg gewesen. Alles sah anders aus. Zwischen mir und Kromer stand etwas wie Zukunft, etwas wie Hoffnung. Ich war nicht mehr allein! Und erst jetzt sah ich, wie schrecklich allein ich wochen- und wochenlang mit meinem Geheimnis gewesen war. Und sofort fiel mir ein, was ich mehrmals durchgedacht hatte: daß eine Beichte vor meinen Eltern mich erleichtern und mich doch nicht ganz erlösen würde. Nun hatte ich beinahe gebeichtet, einem andern, einem Fremden, und Erlösungsahnung flog mir wie ein starker Duft entgegen!

 

Immerhin war meine Angst noch lange nicht überwunden, und ich war noch auf lange und furchtbare Auseinandersetzungen mit meinem Feinde gefaßt. Desto merkwürdiger war es mir, daß alles so still, so völlig geheim und ruhig verlief.

Kromers Pfiff vor unsrem Hause blieb aus, einen Tag, zwei Tage, drei Tage, eine Woche lang. Ich wagte gar nicht, daran zu glauben, und lag innerlich auf der Lauer, ob er nicht plötzlich, eben wenn man ihn gar nimmer erwartete, doch wieder dastehen würde. Aber er war und blieb fort! Mißtrauisch gegen die neue Freiheit, glaubte ich noch immer nicht recht daran. Bis ich endlich einmal dem Franz Kromer begegnete. Er kam die Seilergasse herab, gerade mir entgegen. Als er mich sah, zuckte er zusammen, verzog das Gesicht zu einer wüsten Grimasse und kehrte ohne weiteres um, um mir nicht begegnen zu müssen.

Das war für mich ein unerhörter Augenblick! Mein Feind lief vor mir davon! Mein Satan hatte Angst vor mir! Mir fuhr die Freude und Überraschung durch und durch.

In diesen Tagen zeigte sich Demian einmal wieder. Er wartete auf mich vor der Schule.

„Grüß Gott,“ sagte ich.

„Guten Morgen, Sinclair. Ich wollte nur einmal hören, wie dir’s geht. Der Kromer läßt dich doch jetzt in Ruhe, nicht?“

„Hast du das gemacht? Aber wie denn? Wie denn? Ich begreife es gar nicht. Er ist ganz ausgeblieben.“

„Das ist gut. Wenn er je einmal wiederkommen sollte — ich denke, er tut es nicht, aber er ist ja ein frecher Kerl — dann sage ihm bloß, er möge an den Demian denken.“

„Aber wie hängt das zusammen? Hast du Händel mit ihm angefangen und ihn verhauen?“

„Nein, das tue ich nicht so gern. Ich habe bloß mit ihm gesprochen, so wie mit dir auch, und habe ihm dabei klar machen können, daß es sein eigener Vorteil ist, wenn er dich in Ruhe läßt.“

„O, du wirst ihm doch kein Geld gegeben haben?“

„Nein, mein Junge. Diesen Weg hattest ja du schon probiert.“

Er machte sich los, so sehr ich ihn auszufragen versuchte, und ich blieb mit dem alten beklommenen Gefühl gegen ihn zurück, das aus Dankbarkeit und Scheu, aus Bewunderung und Angst, aus Zuneigung und innerem Widerstreben seltsam gemischt war.

Ich nahm mir vor, ihn bald wiederzusehen, und dann wollte ich mehr mit ihm über das alles reden, auch noch über die Kain-Sache.

Es kam nicht dazu.

Dankbarkeit ist überhaupt keine Tugend, an die ich Glauben habe, und sie von einem Kinde zu verlangen, schiene mir falsch. So wundere ich mich über meine eigene völlige Undankbarkeit nicht eben sehr, die ich gegen Max Demian bewies. Ich glaube heute mit Bestimmtheit, daß ich fürs Leben krank und verdorben worden wäre, wenn er mich nicht aus den Klauen Kromers befreit hätte. Diese Befreiung fühlte ich auch damals schon als das größte Erlebnis meines jungen Lebens — aber den Befreier selbst ließ ich links liegen, sobald er das Wunder vollführt hatte.

Merkwürdig ist die Undankbarkeit, wie gesagt, mir nicht. Sonderbar ist mir einzig der Mangel an Neugierde, den ich bewies. Wie war es möglich, daß ich einen einzigen Tag ruhig weiterleben konnte, ohne den Geheimnissen näher zu kommen, mit denen mich Demian in Berührung gebracht hatte? Wie konnte ich die Begierde zurückhalten, mehr über Kain zu hören, mehr über Kromer, mehr über das Gedankenlesen?

Es ist kaum begreiflich, und ist doch so. Ich sah mich plötzlich aus dämonischen Netzen entwirrt, sah wieder die Welt hell und freudig vor mir liegen, unterlag nicht mehr Angstanfällen und würgendem Herzklopfen. Der Bann war gebrochen, ich war nicht mehr ein gepeinigter Verdammter, ich war wieder ein Schulknabe wie immer. Meine Natur suchte so rasch wie möglich wieder in Gleichgewicht und Ruhe zu kommen, und so gab sie sich vor allem Mühe, das viele Häßliche und Bedrohende von sich weg zu rücken, es zu vergessen. Wunderbar schnell entglitt die ganze lange Geschichte meiner Schuld und Verängstigung meinem Gedächtnis, ohne scheinbar irgendwelche Narben und Eindrücke hinterlassen zu haben.

Daß ich hingegen meinen Helfer und Retter ebenso rasch zu vergessen suchte, begreife ich heute auch. Aus dem Jammertal meiner Verdammung, aus der furchtbaren Sklaverei bei Kromer floh ich mit allen Trieben und Kräften meiner geschädigten Seele dahin zurück, wo ich früher glücklich und zufrieden gewesen war: in das verlorene Paradies, das sich wieder öffnete, in die helle Vater- und Mutterwelt, zu den Schwestern, zum Duft der Reinheit, zur Gottgefälligkeit Abels.

Schon am Tage nach meinem kurzen Gespräch mit Demian, als ich von meiner wiedergewonnenen Freiheit endlich völlig überzeugt war und keine Rückfälle mehr fürchtete, tat ich das, was ich so oft und sehnlich mir gewünscht hatte — ich beichtete. Ich ging zu meiner Mutter, ich zeigte ihr das Sparbüchslein, dessen Schloß beschädigt und das mit Spielmarken statt mit Geld gefüllt war, und ich erzählte ihr, wie lange Zeit ich durch eigene Schuld mich an einen bösen Quäler gefesselt hatte. Sie begriff nicht alles, aber sie sah die Büchse, sie sah meinen veränderten Blick, hörte meine veränderte Stimme, fühlte, daß ich genesen, daß ich ihr wiedergegeben war.

Und nun beging ich mit hohen Gefühlen das Fest meiner Wiederaufnahme, die Heimkehr des verlorenen Sohnes. Die Mutter brachte mich zum Vater, die Geschichte wurde wiederholt, Fragen und Ausrufe der Verwunderung drängten sich, beide Eltern streichelten mir den Kopf und atmeten aus langer Bedrückung auf. Alles war herrlich, alles war wie in den Erzählungen, alles löste sich in wunderbare Harmonie auf.

In diese Harmonie floh ich nun mit wahrer Leidenschaft. Ich konnte mich nicht genug daran ersättigen, daß ich wieder meinen Frieden und das Vertrauen der Eltern hatte, ich wurde ein häuslicher Musterknabe, spielte mehr als jemals mit meinen Schwestern und sang bei den Andachten die lieben, alten Lieder mit wonnevollen Gefühlen des Erlösten und Bekehrten mit. Es geschah von Herzen, es war keine Lüge dabei.

Dennoch war es so gar nicht in Ordnung! Und hier ist der Punkt, aus dem sich mir meine Vergeßlichkeit gegen Demian allein wahrhaft erklärt. Ihm hätte ich beichten sollen! Die Beichte wäre weniger dekorativ und rührend, aber für mich fruchtbarer ausgefallen. Nun klammerte ich mich mit allen Wurzeln an meine ehemalige, paradiesische Welt, war heimgekehrt und in Gnaden aufgenommen. Demian aber gehörte zu dieser Welt keineswegs, paßte nicht in sie. Auch er war, anders als Kromer, aber doch eben — auch er war ein Verführer, auch er verband mich mit der zweiten, der bösen, schlechten Welt, und von der wollte ich nun für immer nichts mehr wissen. Ich konnte und wollte jetzt nicht Abel preisgeben und Kain verherrlichen helfen, jetzt, wo ich eben selbst wieder ein Abel geworden war.

So der äußere Zusammenhang. Der innere aber war dieser: Ich war aus Kromers und des Teufels Händen erlöst, aber nicht durch meine eigene Kraft und Leistung. Ich hatte versucht, auf den Pfaden der Welt zu wandeln, und sie waren für mich zu schlüpfrig gewesen. Nun, da der Griff einer freundlichen Hand mich gerettet hatte, lief ich, ohne einen Blick mehr nebenaus zu tun, in den Schoß der Mutter und die Geborgenheit einer umhegten, frommen, milden Kindlichkeit zurück. Ich machte mich jünger, abhängiger, kindlicher als ich war. Ich mußte die Abhängigkeit von Kromer durch eine neue ersetzen, denn allein zu gehen vermochte ich nicht. So wählte ich, in meinem blinden Herzen, die Abhängigkeit von Vater und Mutter, von der alten, geliebten „lichten Welt,“ von der ich doch schon wußte, daß sie nicht die einzige war. Hätte ich das nicht getan, so hätte ich mich zu Demian halten und mich ihm anvertrauen müssen. Daß ich das nicht tat, das erschien mir damals als berechtigtes Mißtrauen gegen seine befremdlichen Gedanken; in Wahrheit war es nichts als Angst. Denn Demian hätte mehr von mir verlangt als die Eltern verlangten, viel mehr, er hätte mich mit Antrieb und Ermahnung, mit Spott und Ironie selbständiger zu machen versucht. Ach, das weiß ich heute: Nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt!

Dennoch konnte ich, etwa ein halbes Jahr später, der Versuchung nicht widerstehen, und fragte auf einem Spaziergang meinen Vater, was davon zu halten sei, daß manche Leute den Kain für besser als den Abel erklärten.

Er war sehr verwundert und erklärte mir, daß dies eine Auffassung sei, welche der Neuheit entbehre. Sie sei sogar schon in der urchristlichen Zeit aufgetaucht und sei in Sekten gelehrt worden, deren eine sich die „Kainiten“ nannte. Aber natürlich sei diese tolle Lehre nichts anderes als ein Versuch des Teufels, unsern Glauben zu zerstören. Denn glaube man an das Recht Kains und das Unrecht Abels, dann ergebe sich daraus die Folge, daß Gott sich geirrt habe, daß also der Gott der Bibel nicht der richtige und einzige, sondern ein falscher sei. Wirklich hätten die Kainiten auch Ähnliches gelehrt und gepredigt; doch sei diese Ketzerei seit langem aus der Menschheit verschwunden und er wundere sich nur, daß ein Schulkamerad von mir etwas davon erfahren habe können. Immerhin ermahne er mich ernstlich, diese Gedanken zu unterlassen.

Drittes Kapitel
Der Schächer

Es wäre Schönes, Zartes und Liebenswertes zu erzählen von meiner Kindheit, von meinem Geborgensein bei Vater und Mutter, von Kindesliebe und genügsam spielerischem Hinleben in sanften, lieben, lichten Umgebungen. Andre haben davon genugsam gesprochen. Mich interessieren nur die Schritte, die ich in meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen. Alle die hübschen Ruhepunkte, Glücksinseln und Paradiese, deren Zauber mir nicht unbekannt blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre nicht sie nochmals zu betreten.

Darum spreche ich, soweit ich noch bei meiner Knabenzeit verweile, nur von dem, was Neues mir zukam, was mich vorwärts trieb, mich losriß.

Immer kamen diese Anstöße von der „anderen Welt,“ immer brachten sie Angst, Zwang und böses Gewissen mit sich, immer waren sie revolutionär und gefährdeten den Frieden, in dem ich gern wohnen geblieben wäre.

Es kamen die Jahre, in welchen ich aufs neue entdecken mußte, daß in mir selbst ein Urtrieb lebte, der in der erlaubten und lichten Welt sich verkriechen und verstecken mußte. Wie jeden Menschen, so fiel auch mich das langsam erwachende Gefühl des Geschlechts als ein Feind und Zerstörer an, als Verbotenes, als Verführung und Sünde. Was meine Neugierde suchte, was mir Träume, Lust und Angst schuf, das große Geheimnis der Pubertät, das paßte gar nicht in die umhegte Glückseligkeit meines Kinderfriedens. Ich tat wie alle. Ich führte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist. Mein Bewußtsein lebte im Heimischen und Erlaubten, mein Bewußtsein leugnete die empordämmernde neue Welt. Daneben aber lebte ich in Träumen, Trieben, Wünschen von unterirdischer Art, über welchen jenes bewußte Leben sich immer ängstlichere Brücken baute, denn die Kinderwelt in mir fiel zusammen. Wie fast alle Eltern, so halfen auch die meinen nicht den erwachenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können, und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen.

Jeder Mensch durchlebt diese Schwierigkeit. Für den Durchschnittlichen ist dies der Punkt im Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am härtesten mit der Umwelt in Streit gerät, wo der Weg nach vorwärts am bittersten erkämpft werden muß. Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des Weltraums um uns fühlen. Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischeste aller Träume ist.

Wenden wir uns zur Geschichte zurück. Die Empfindungen und Traumbilder, in denen sich mir das Ende der Kindheit meldete, sind nicht wichtig genug, um erzählt zu werden. Das Wichtige war: die „dunkle Welt,“ die „andere Welt“ war wieder da. Was einst Franz Kromer gewesen war, das stak nun in mir selber. Und damit gewann auch von außen her die „andere Welt“ wieder Macht über mich.

Es waren seit der Geschichte mit Kromer mehrere Jahre vergangen. Jene dramatische und schuldvolle Zeit meines Lebens lag damals mir sehr fern und schien wie ein kurzer Alptraum in nichts vergangen. Franz Kromer war längst aus meinem Leben verschwunden, kaum daß ich es achtete, wenn er mir je einmal begegnete. Die andere wichtige Figur meiner Tragödie aber, Max Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem Umkreis. Doch stand er lange Zeit fern am Rande, sichtbar, doch nicht wirksam. Erst allmählich trat er wieder näher, strahlte wieder Kräfte und Einflüsse aus.

Ich suche mich zu besinnen, was ich aus jener Zeit von Demian weiß. Es mag sein, daß ich ein Jahr oder länger kein einziges Mal mit ihm gesprochen habe. Ich mied ihn, und er drängte sich keineswegs auf. Etwa einmal, wenn wir uns begegneten, nickte er mir einen freundlichen Gruß zu. Mir schien es dann zuweilen, es sei in seiner Freundlichkeit ein feiner Klang von Hohn oder ironischem Vorwurf, doch mag das Einbildung gewesen sein. Die Geschichte, die ich mit ihm erlebt hatte, und der seltsame Einfluß, den er damals auf mich geübt, waren wie vergessen, von ihm wie von mir.

Ich suche nach seiner Figur, und nun, da ich mich auf ihn besinne, sehe ich, daß er doch da war und von mir bemerkt wurde. Ich sehe ihn zur Schule gehen, allein oder zwischen andern von den größeren Schülern, und ich sehe ihn fremdartig, einsam und still, wie gestirnhaft zwischen ihnen wandeln, von einer eigenen Luft umgeben, unter eigenen Gesetzen lebend. Niemand liebte ihn, niemand war mit ihm vertraut, nur seine Mutter, und auch mit ihr schien er nicht wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener zu verkehren. Die Lehrer ließen ihn möglichst in Ruhe, er war ein guter Schüler, aber er suchte keinem zu gefallen, und je und je vernahmen wir gerüchtweise von irgendeinem Wort, einer Glosse oder Gegenrede, die er einem Lehrer sollte gegeben haben und die an schroffer Herausforderung oder an Ironie nichts zu wünschen übrig ließ.

Ich besinne mich, mit geschlossenen Augen, und ich sehe sein Bild auftauchen. Wo war das? Ja, nun ist es wieder da. Es war auf der Gasse vor unserem Hause. Da sah ich ihn eines Tages stehen, ein Notizbuch in der Hand, und sah ihn zeichnen. Er zeichnete das alte Wappenbild mit dem Vogel über unsrer Haustüre ab. Und ich stand an einem Fenster, hinterm Vorhang verborgen, und schaute ihm zu, und sah mit tiefer Verwunderung sein aufmerksames, kühles, helles Gesicht dem Wappen zugewendet, das Gesicht eines Mannes, eines Forschers oder Künstlers, überlegen und voll von Willen, sonderbar hell und kühl, mit wissenden Augen.

Und wieder sehe ich ihn. Es war wenig später, auf der Straße; wir standen alle, von der Schule kommend, um ein Pferd, das gestürzt war. Es lag, noch an die Deichsel geschirrt, vor einem Bauernwagen, schnob suchend und kläglich mit geöffneten Nüstern in die Luft und blutete aus einer unsichtbaren Wunde, so daß zu seiner Seite der weiße Straßenstaub sich langsam dunkel vollsog. Als ich, mit einem Gefühl von Übelkeit, mich von dem Anblick wegwandte, sah ich Demians Gesicht. Er hatte sich nicht vorgedrängt, er stand zuhinterst, bequem und ziemlich elegant, wie es zu ihm gehörte. Sein Blick schien auf den Kopf des Pferdes gerichtet, und hatte wieder diese tiefe, stille, beinah fanatische und doch leidenschaftslose Aufmerksamkeit. Ich mußte ihn lang ansehen, und damals fühlte ich, noch fern vom Bewußtsein, etwas sehr Eigentümliches. Ich sah Demians Gesicht, und ich sah nicht nur, daß er kein Knabengesicht hatte, sondern das eines Mannes; ich sah noch mehr, ich glaubte zu sehen, oder zu spüren, daß es auch nicht das Gesicht eines Mannes sei, sondern noch etwas anderes. Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin, und namentlich schien dies Gesicht mir, für einen Augenblick, nicht männlich oder kindlich, nicht alt oder jung, sondern irgendwie tausendjährig, irgendwie zeitlos, von anderen Zeitläuften gestempelt als wir sie leben. Tiere konnten so aussehen, oder Bäume, oder Sterne — ich wußte das nicht, ich empfand nicht genau das, was ich jetzt als Erwachsener darüber sage, aber etwas Ähnliches. Vielleicht war er schön, vielleicht gefiel er mir, vielleicht war er mir auch zuwider, auch das war nicht zu entscheiden. Ich sah nur: er war anders als wir, er war wie ein Tier, oder wie ein Geist, oder wie ein Bild, ich weiß nicht, wie er war, aber er war anders, unausdenkbar anders als wir alle.

Mehr sagt die Erinnerung mir nicht, und vielleicht ist auch dies zum Teil schon aus späteren Eindrücken geschöpft.

Erst als ich mehrere Jahre älter war, kam ich endlich wieder mit ihm in nähere Berührung. Demian war nicht, wie die Sitte es gefordert hätte, mit seinem Jahrgang in der Kirche konfirmiert worden, und auch daran hatten sich wieder alsbald Gerüchte geknüpft. Es hieß in der Schule wieder, er sei eigentlich ein Jude, oder nein, ein Heide, und andre wußten, er sei samt seiner Mutter ohne jede Religion oder gehöre einer fabelhaften, schlimmen Sekte an. Im Zusammenhang damit meine ich auch den Verdacht vernommen zu haben, er lebe mit seiner Mutter wie mit einer Geliebten. Vermutlich war es so, daß er bisher ohne Konfession erzogen worden war, daß dies nun aber für seine Zukunft irgendwelche Unzuträglichkeiten fürchten ließ. Jedenfalls entschloß sich seine Mutter, ihn jetzt doch, zwei Jahre später als seine Altersgenossen, an der Konfirmation teilnehmen zu lassen. So kam es, daß er nun monatelang im Konfirmationsunterricht mein Kamerad war.

Eine Weile hielt ich mich ganz von ihm zurück, ich wollte nicht teil an ihm haben, er war mir allzu sehr von Gerüchten und Geheimnissen umgeben, namentlich aber störte mich das Gefühl von Verpflichtung, das seit der Affäre mit Kromer in mir zurückgeblieben war. Und gerade damals hatte ich genug mit meinen eigenen Geheimnissen zu tun. Für mich fiel der Konfirmationsunterricht zusammen mit der Zeit der entscheidenden Aufklärungen in den geschlechtlichen Dingen, und trotz gutem Willen war mein Interesse für die fromme Belehrung dadurch sehr beeinträchtigt. Die Dinge, von denen der Geistliche sprach, lagen weit von mir weg in einer stillen heiligen Unwirklichkeit, sie waren vielleicht ganz schön und wertvoll, aber keineswegs aktuell und erregend, und jene andern Dinge waren gerade dies im höchsten Maße.

Je mehr mich nun dieser Zustand gegen den Unterricht gleichgültig machte, desto mehr näherte sich mein Interesse wieder dem Max Demian. Irgend etwas schien uns zu verbinden. Ich muß diesem Faden möglichst genau nachgehen. Soviel ich mich besinnen kann, begann es in einer Stunde früh am Morgen, als noch Licht in der Schulstube brannte. Unser geistlicher Lehrer war auf die Geschichte Kains und Abels zu sprechen gekommen. Ich achtete kaum darauf, ich war schläfrig und hörte kaum zu. Da begann der Pfarrer mit erhobener Stimme eindringlich vom Kainszeichen zu reden. In diesem Augenblick spürte ich eine Art von Berührung oder Mahnung, und aufblickend sah ich aus den vorderen Bankreihen her das Gesicht Demians nach mir zurück gewendet, mit einem hellen sprechenden Auge, dessen Ausdruck ebensowohl Spott wie Ernst sein konnte. Nur einen Moment sah er mich an, und plötzlich horchte ich gespannt auf die Worte des Pfarrers, hörte ihn vom Kain und seinem Zeichen reden, und spürte tief in mir ein Wissen, daß das nicht so sei wie er es lehre, daß man das auch anders ansehen konnte, daß daran Kritik möglich war!

Mit dieser Minute war zwischen Demian und mir wieder eine Verbindung da. Und sonderbar — kaum war dies Gefühl einer gewissen Zusammengehörigkeit in der Seele da, so sah ich es wie magisch auch ins Räumliche übertragen. Ich wußte nicht, ob er es selbst so einrichten konnte oder ob es ein reiner Zufall war — ich glaubte damals noch fest an Zufälle — nach wenigen Tagen hatte Demian plötzlich seinen Platz in der Religionsstunde gewechselt und saß gerade vor mir (ich weiß noch, wie gern ich mitten in der elenden Armenhäuslerluft der überfüllten Schulstube am Morgen von seinem Nacken her den zartfrischen Seifengeruch einsog!), und wieder nach einigen Tagen hatte er wieder gewechselt und saß nun neben mir, und da blieb er sitzen, den ganzen Winter und das ganze Frühjahr hindurch.

Die Morgenstunden hatten sich ganz verwandelt. Sie waren nicht mehr schläfrig und langweilig. Ich freute mich auf sie. Manchmal hörten wir beide mit der größten Aufmerksamkeit dem Pfarrer zu, ein Blick von meinem Nachbar genügte, um mich auf eine merkwürdige Geschichte, einen seltsamen Spruch hinzuweisen. Und ein anderer Blick von ihm, ein ganz bestimmter, genügte, um mich zu mahnen, um Kritik und Zweifel in mir anzuregen.

Sehr oft aber waren wir schlechte Schüler und hörten nichts vom Unterricht. Demian war stets artig gegen Lehrer und Mitschüler, nie sah ich ihn Schuljungendummheiten machen, nie hörte man ihn laut lachen oder plaudern, nie zog er sich einen Tadel des Lehrers zu. Aber ganz leise, und mehr mit Zeichen und Blicken als mit Flüsterworten, verstand er es, mich an seinen eigenen Beschäftigungen teilnehmen zu lassen. Diese waren zum Teil von merkwürdiger Art.

Er sagte mir zum Beispiel, welche von den Schülern ihn interessierten, und auf welche Weise er sie studiere. Manche kannte er sehr genau. Er sagte mir vor der Lektion: „Wenn ich dir ein Zeichen mit dem Daumen mache, dann wird der und der sich nach uns umsehen, oder sich am Nacken kratzen usw.“ Während der Stunde dann, wenn ich oft kaum mehr daran dachte, drehte Max plötzlich mit auffallender Gebärde mir seinen Daumen zu, ich schaute schnell nach dem bezeichneten Schüler aus und sah ihn jedesmal, wie am Draht gezogen, die verlangte Gebärde machen. Ich plagte Max, er solle das auch einmal am Lehrer versuchen, doch wollte er es nicht tun. Aber einmal, als ich in die Stunde kam und ihm sagte, ich hätte heute meine Aufgaben nicht gelernt und hoffe sehr, der Pfarrer werde mich heute nichts fragen, da half er mir. Der Pfarrer suchte nach einem Schüler, den er ein Stück Katechismus hersagen lassen wollte, und sein schweifendes Auge blieb auf meinem schuldbewußten Gesicht hängen. Langsam kam er heran, streckte den Finger gegen mich aus, hatte schon meinen Namen auf den Lippen — da wurde er plötzlich zerstreut oder unruhig, rückte an seinem Halskragen, trat auf Demian zu, der ihm fest ins Gesicht sah, schien ihn etwas fragen zu wollen, wandte sich aber überraschend wieder weg, hustete eine Weile und forderte dann einen andern Schüler auf.

Erst allmählich merkte ich, während diese Scherze mich sehr belustigten, daß mein Freund mit mir häufig dasselbe Spiel treibe. Es kam vor, daß ich auf dem Schulweg plötzlich das Gefühl hatte, Demian gehe eine Strecke hinter mir, und wenn ich mich umwandte, war er richtig da.

„Kannst du denn eigentlich machen, daß ein anderer das denken muß, was du willst?“ fragte ich ihn.

Er gab bereitwillig Auskunft, ruhig und sachlich, in seiner erwachsenen Art.

„Nein,“ sagte er, „das kann man nicht. Man hat nämlich keinen freien Willen, wenn auch der Pfarrer so tut. Weder kann der andere denken, was er will, noch kann ich ihn denken machen, was ich will. Wohl aber kann man jemand gut beobachten, und dann kann man oft ziemlich genau sagen, was er denkt oder fühlt, und dann kann man meistens auch voraussehen, was er im nächsten Augenblick tun wird. Es ist ganz einfach, die Leute wissen es bloß nicht. Natürlich braucht es Übung.

Es gibt zum Beispiel bei den Schmetterlingen gewisse Nachtfalter, bei denen sind die Weibchen viel seltener als die Männchen. Die Falter pflanzen sich gerade so fort wie alle Tiere, der Mann befruchtet das Weibchen, das dann Eier legt. Wenn du nun von diesen Nachtfaltern ein Weibchen hast — es ist von Naturforschern oft probiert worden — so kommen in der Nacht zu diesem Weibchen die männlichen Falter geflogen, und zwar stundenweit! Stundenweit, denke dir! Auf viele Kilometer spüren alle diese Männchen das einzige Weibchen, das in der Gegend ist! Man versucht das zu erklären, aber es geht schwer. Es muß eine Art Geruchssinn oder so etwas sein, etwa so wie gute Jagdhunde eine unmerkliche Spur finden und verfolgen können. Du begreifst? Das sind solche Sachen, die Natur ist voll davon, und niemand kann sie erklären. Nun sage ich aber: Wären bei diesen Schmetterlingen die Weibchen so häufig wie die Männchen, so hätten sie die feine Nase eben nicht! Sie haben sie bloß, weil sie sich darauf dressiert haben. Wenn ein Tier oder Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch. Das ist alles. Und genau so ist es mit dem, was du meinst. Sieh dir einen Menschen genau genug an, so weißt du mehr von ihm als er selber.“

Mir lag es auf der Zunge, das Wort „Gedankenlesen“ auszusprechen, und ihn damit an die Szene mit Kromer zu erinnern, die so lang zurück lag. Aber dies war nun auch eine seltsame Sache zwischen uns beiden: Nie und niemals machte weder er noch ich die leiseste Anspielung darauf, daß er vor mehreren Jahren einmal so ernstlich in mein Leben eingegriffen hatte. Es war, als sei nie etwas früher zwischen uns gewesen, oder als rechne jeder von uns fest damit, daß der andere das vergessen habe. Es kam, ein- oder zweimal, sogar vor, daß wir zusammen über die Straße gingen und den Franz Kromer antrafen, aber wir wechselten keinen Blick, sprachen kein Wort von ihm.

„Aber wie ist nun das mit dem Willen?“ fragte ich. „Du sagst, man hat keinen freien Willen. Aber dann sagst du wieder, man brauche nur seinen Willen fest auf etwas zu richten, dann könne man sein Ziel erreichen. Das stimmt doch nicht! Wenn ich nicht Herr über meinen Willen bin, dann kann ich ihn ja auch nicht beliebig da- oder dorthin richten.“

Er klopfte mir auf die Schulter. Das tat er stets, wenn ich ihm Freude machte.

„Gut, daß du fragst!“ sagte er lachend. „Man muß immer fragen, man muß immer zweifeln. Aber die Sache ist sehr einfach. Wenn so ein Nachtfalter zum Beispiel seinen Willen auf einen Stern oder sonstwohin richten wollte, so könnte er das nicht. Nur — er versucht das überhaupt nicht. Er sucht nur das, was Sinn und Wert für ihn hat, was er braucht, was er unbedingt haben muß. Und eben da gelingt ihm auch das Unglaubliche — er entwickelt einen zauberhaften sechsten Sinn, den kein anderes Tier außer ihm hat! Unsereiner hat mehr Spielraum, gewiß, und mehr Interessen als ein Tier. Aber auch wir sind in einem verhältnismäßig recht engen Kreis gebunden und können nicht darüber hinaus. Ich kann wohl das und das phantasieren, mir etwa einbilden, ich wolle unbedingt an den Nordpol kommen, oder so etwas, aber ausführen und genügend stark wollen kann ich das nur, wenn der Wunsch ganz in mir selber liegt, wenn wirklich mein Wesen ganz von ihm erfüllt ist. Sobald das der Fall ist, sobald du etwas probierst, was dir von innen heraus befohlen wird, dann geht es auch, dann kannst du deinen Willen anspannen wie einen guten Gaul. Wenn ich zum Beispiel mir jetzt vornähme, ich wolle bewirken, daß unser Herr Pfarrer künftig keine Brille mehr trägt, so geht das nicht. Das ist bloß eine Spielerei. Aber als ich, damals im Herbst, den festen Willen bekam, aus meiner Bank da vorne versetzt zu werden, da ging es ganz gut. Da war plötzlich einer da, der im Alphabet vor mir kam, und der bisher krank gewesen war, und weil jemand ihm Platz machen mußte, war natürlich ich der, der es tat, weil eben mein Wille bereit war, sofort die Gelegenheit zu packen.“

„Ja,“ sagte ich, „mir war es damals auch ganz eigentümlich. Von dem Augenblick an, wo wir uns füreinander interessierten, rücktest du mir immer näher. Aber wie war das? Anfangs kamst du doch nicht gleich neben mich zu sitzen, du saßest erst ein paarmal in der Bank da vor mir, nicht? Wie ging das zu?“

„Das war so: ich wußte selber nicht recht, wohin ich wollte, als ich von meinem ersten Platz weg begehrte. Ich wußte nur, daß ich weiter hinten sitzen wollte. Es war mein Wille, zu dir zu kommen, der mir aber noch nicht bewußt geworden war. Zugleich zog dein eigener Wille mit und half mir. Erst als ich dann da vor dir saß, kam ich darauf, daß mein Wunsch erst halb erfüllt sei — ich merkte, daß ich eigentlich nichts anderes begehrt hatte, als neben dir zu sitzen.“

„Aber damals ist kein Neuer eingetreten.“

„Nein, aber damals tat ich einfach, was ich wollte, und setzte mich kurzerhand neben dich. Der Junge, mit dem ich den Platz tauschte, war bloß verwundert und ließ mich machen. Und der Pfarrer merkte zwar einmal, daß es da eine Änderung gegeben habe — überhaupt, jedesmal, wenn er mit mir zu tun hat, plagt ihn heimlich etwas, er weiß nämlich, daß ich Demian heiße und daß es nicht stimmt, daß ich mit meinem D im Namen da ganz hinten unterm S sitze! Aber das dringt nicht bis in sein Bewußtsein, weil mein Wille dagegen ist, und weil ich ihn immer wieder daran hindere. Er merkt es immer wieder einmal, daß da etwas nicht stimmt, und sieht mich an und fängt an zu studieren, der gute Herr. Ich habe da aber ein einfaches Mittel. Ich seh ihm jedesmal ganz, ganz fest in die Augen. Das vertragen fast alle Leute schlecht. Sie werden alle unruhig. Wenn du von jemand etwas erreichen willst, und siehst ihm unerwartet ganz fest in die Augen, und er wird gar nicht unruhig, dann gib es auf! Du erreichst nichts bei ihm, nie! Aber das ist sehr selten. Ich weiß eigentlich bloß einen einzigen Menschen, bei dem es mir nicht hilft.“

„Wer ist das?“ fragte ich schnell.

Er sah mich an, mit den etwas verkleinerten Augen, die er in der Nachdenklichkeit bekam. Dann blickte er weg und gab keine Antwort, und ich konnte, trotz heftiger Neugierde, die Frage nicht wiederholen.

Ich glaube aber, daß er damals von seiner Mutter sprach. — Mit ihr schien er sehr innig zu leben, sprach mir aber nie von ihr, nahm mich nie mit sich nach Hause. Ich wußte kaum, wie seine Mutter aussah.

 

Manchmal machte ich damals Versuche, es ihm gleichzutun und meinen Willen auf etwas so zusammenzuziehen, daß ich es erreichen müsse. Es waren Wünsche da, die mir dringend genug schienen. Aber es war nichts und ging nicht. Mit Demian davon zu sprechen, brachte ich nicht über mich. Was ich mir wünschte, hätte ich ihm nicht gestehen können. Und er fragte auch nicht.

Meine Gläubigkeit in den Fragen der Religion hatte inzwischen manche Lücken bekommen. Doch unterschied ich mich, in meinem durchaus von Demian beeinflußten Denken, sehr von denen meiner Mitschüler, welche einen völligen Unglauben aufzuweisen hatten. Es gab einige solche, und sie ließen gelegentlich Worte hören, wie daß es lächerlich und menschenunwürdig sei, an einen Gott zu glauben, und Geschichten wie die von der Dreieinigkeit und von Jesu unbefleckter Geburt seien einfach zum Lachen, und es sei eine Schande, daß man heute noch mit diesem Kram hausieren gehe. So dachte ich keineswegs. Auch wo ich Zweifel hatte, wußte ich doch aus der ganzen Erfahrung meiner Kindheit genug von der Wirklichkeit eines frommen Lebens, wie es etwa meine Eltern führten, und daß dies weder etwas Unwürdiges noch geheuchelt sei. Vielmehr hatte ich vor dem Religiösen nach wie vor die tiefste Ehrfurcht. Nur hatte Demian mich daran gewöhnt, die Erzählungen und Glaubenssätze freier, persönlicher, spielerischer, phantasievoller anzusehen und auszudeuten; wenigstens folgte ich den Deutungen, die er mir nahelegte, stets gern und mit Genuß. Vieles freilich war mir zu schroff, so auch die Sache wegen Kain. Und einmal während des Konfirmationsunterrichtes erschreckte er mich durch eine Auffassung, die womöglich noch kühner war. Der Lehrer hatte von Golgatha gesprochen. Der biblische Bericht vom Leiden und Sterben des Heilandes hatte mir seit frühester Zeit tiefen Eindruck gemacht, manchmal als kleiner Knabe hatte ich, etwa am Karfreitag, nachdem mein Vater die Leidensgeschichte vorgelesen hatte, innig und ergriffen in dieser leidvoll schönen, bleichen, gespenstigen und doch ungeheuer lebendigen Welt gelebt, in Gethsemane und auf Golgatha, und beim Anhören der Matthäuspassion von Bach hatte mich der düster mächtige Leidensglanz dieser geheimnisvollen Welt mit allen mystischen Schauern überflutet. Ich finde heute noch in dieser Musik, und im „actus tragicus“, den Inbegriff aller Poesie und alles künstlerischen Ausdrucks.

Nun sagte Demian am Schluß jener Stunde nachdenklich zu mir: „Da ist etwas, Sinclair, was mir nicht gefällt. Lies einmal die Geschichte nach und prüfe sie auf der Zunge, es ist da etwas, was fad schmeckt. Nämlich die Sache mit den beiden Schächern. Großartig, wie da die drei Kreuze auf dem Hügel beieinander stehen! Aber nun diese sentimentale Traktätchengeschichte mit dem biederen Schächer! Erst war er ein Verbrecher und hat Schandtaten begangen, weiß Gott was alles, und nun schmilzt er dahin und feiert solche weinerliche Feste der Besserung und Reue! Was für einen Sinn hat solche Reue zwei Schritt vom Grabe weg, ich bitte dich? Es ist wieder einmal nichts als eine richtige Pfaffengeschichte, süßlich und unredlich, mit Schmalz der Rührung und höchst erbaulichem Hintergrund. Wenn du heute einen von den beiden Schächern zum Freund wählen müßtest, oder dich besinnen, welchem von beiden du eher Vertrauen schenken könntest, so ist es doch ganz gewiß nicht dieser weinerliche Bekehrte. Nein, der andere ist’s, der ist ein Kerl und hat Charakter. Er pfeift auf eine Bekehrung, die ja in seiner Lage bloß noch ein hübsches Gerede sein kann, er geht seinen Weg zu Ende und sagt sich nicht im letzten Augenblick feig vom Teufel los, der ihm bis dahin hat helfen müssen. Er ist ein Charakter, und die Leute von Charakter kommen in der biblischen Geschichte gern zu kurz. Vielleicht ist er auch ein Abkömmling von Kain. Meinst du nicht?“

Ich war sehr bestürzt. Hier in der Kreuzigungsgeschichte hatte ich ganz heimisch zu sein geglaubt, und sah erst jetzt, wie wenig persönlich, mit wie wenig Vorstellungskraft und Phantasie ich sie angehört und gelesen hatte. Dennoch klang mir Demians neuer Gedanke fatal und drohte Begriffe in mir umzuwerfen, auf deren Bestehenbleiben ich glaubte halten zu müssen. Nein, so konnte man doch nicht mit allem und jedem umspringen, auch mit dem Heiligsten.

Er merkte meinen Widerstand, wie immer, sofort, noch ehe ich irgend etwas sagte.

„Ich weiß schon,“ sagte er resigniert, „es ist die alte Geschichte. Nur nicht Ernst machen! Aber ich will dir etwas sagen —: hier ist einer von den Punkten, wo man den Mangel in dieser Religion sehr deutlich sehen kann. Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und auch Hohe, das Sentimentale — ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott als Vater alles Lebens rühmen, aber das ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen und womöglich für Teufelszeug und sündlich erklären! Ich habe nichts dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich meine, wir sollen Alles verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. Das fände ich richtig. Oder aber, man müßte sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn die natürlichsten Dinge von der Welt geschehen.“

Er war, gegen seine Art, beinahe heftig geworden, gleich darauf lächelte er jedoch wieder und drang nicht weiter in mich.

In mir aber trafen diese Worte das Rätsel meiner ganzen Knabenjahre, das ich jede Stunde in mir trug und von dem ich nie jemandem ein Wort gesagt hatte. Was Demian da über Gott und Teufel, über die göttlich-offizielle und die totgeschwiegene teuflische Welt gesagt hatte, das war ja genau mein eigener Gedanke, mein eigener Mythus, der Gedanke von den beiden Welten oder Welthälften — der lichten und der dunkeln. Die Einsicht, daß mein Problem ein Problem aller Menschen, ein Problem alles Lebens und Denkens sei, überflog mich plötzlich wie ein heiliger Schatten, und Angst und Ehrfurcht überkam mich, als ich sah und plötzlich fühlte, wie tief mein eigenstes, persönliches Leben und Meinen am ewigen Strom der großen Ideen teilhatte. Die Einsicht war nicht freudig, obwohl irgendwie bestätigend und beglückend. Sie war hart und schmeckte rauh, weil ein Klang von Verantwortlichkeit in ihr lag, von Nichtmehrkindseindürfen, von Alleinstehen.

Ich erzählte, zum erstenmal in meinem Leben ein so tiefes Geheimnis enthüllend, meinem Kameraden von meiner seit frühesten Kindertagen bestehenden Auffassung von den „zwei Welten“, und er sah sofort, daß damit mein tiefstes Fühlen ihm zustimmte und recht gab. Doch war es nicht seine Art, so etwas auszunützen. Er hörte mit tieferer Aufmerksamkeit zu, als er sie mir je geschenkt hatte, und sah mir in die Augen, bis ich die meinen abwenden mußte. Denn ich sah in seinem Blick wieder diese seltsame, tierhafte Zeitlosigkeit, dies unausdenkliche Alter.

„Wir reden ein andermal mehr davon,“ sagte er schonend. „Ich sehe, du denkst mehr, als du einem sagen kannst. Wenn das nun so ist, dann weißt du aber auch, daß du nie ganz das gelebt hast, was du dachtest, und das ist nicht gut. Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. Du hast gewußt, daß deine ‚erlaubte Welt‘ bloß die Hälfte der Welt war, und du hast versucht, die zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und Lehrer tun. Es wird dir nicht glücken! Es glückt keinem, wenn er einmal das Denken angefangen hat.“

Es traf mich tief.

„Aber,“ schrie ich fast, „es gibt doch nun einmal tatsächlich und wirklich verbotene und häßliche Dinge, das kannst du doch nicht leugnen! Und die sind nun einmal verboten, und wir müssen auf sie verzichten. Ich weiß ja, daß es Mord und alle möglichen Laster gibt, aber soll ich denn, bloß weil es das gibt, hingehen und ein Verbrecher werden?“

„Wir werden heute nicht damit fertig,“ begütigte Max. „Du sollst gewiß nicht totschlagen oder Mädchen lustmorden, nein. Aber du bist noch nicht dort, wo man einsehen kann, was ‚erlaubt‘ und ‚verboten‘ eigentlich heißt. Du hast erst ein Stück von der Wahrheit gespürt. Das andere kommt noch, verlaß dich drauf! Du hast jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen Trieb in dir, der ist stärker als alle andern, und er gilt für ‚verboten‘. Die Griechen und viele andere Völker haben im Gegenteil diesen Trieb zu einer Gottheit gemacht und ihn in großen Festen verehrt. ‚Verboten‘ ist also nichts Ewiges, es kann wechseln. Auch heute darf ja jeder bei einer Frau schlafen, sobald er mit ihr beim Pfarrer gewesen ist und sie geheiratet hat. Bei andern Völkern ist das anders, auch heute noch. Darum muß jeder von uns für sich selber finden, was erlaubt und was verboten — ihm verboten ist. Man kann niemals etwas Verbotnes tun und kann ein großer Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt. — Eigentlich ist es bloß eine Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. Er hat es leicht. Andere spüren selber Gebote in sich, ihnen sind Dinge verboten, die jeder Ehrenmann täglich tut, und es sind ihnen andere Dinge erlaubt, die sonst verpönt sind. Jeder muß für sich selber stehen.“

Er schien plötzlich zu bereuen, so viel gesagt zu haben, und brach ab. Schon damals konnte ich mit dem Gefühl einigermaßen begreifen, was er dabei empfand. So angenehm und scheinbar obenhin er nämlich seine Einfälle vorzubringen pflegte, so konnte er doch ein Gespräch „nur um des Redens willen“, wie er einmal sagte, in den Tod nicht leiden. Bei mir aber spürte er, neben dem echten Interesse, zu viel Spiel, zu viel Freude am gescheiten Schwatzen, oder so etwas, kurz, einen Mangel an vollkommenem Ernst.

 

Wie ich das letzte Wort wieder lese, das ich geschrieben — „vollkommener Ernst“ — fällt eine andere Szene mir plötzlich wieder ein, die eindringlichste, die ich mit Max Demian in jenen noch halbkindlichen Zeiten erlebt habe.

Unsere Konfirmation kam heran, und die letzten Stunden des geistlichen Unterrichts handelten vom Abendmahl. Es war dem Pfarrer wichtig damit, und er gab sich Mühe, etwas von Weihe und Stimmung war in diesen Stunden wohl zu verspüren. Allein gerade in diesen paar letzten Unterweisungsstunden waren meine Gedanken an anderes gebunden, und zwar an die Person meines Freundes. Indem ich der Konfirmation entgegensah, die uns als die feierliche Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche erklärt wurde, drängte sich mir unabweislich der Gedanke auf, daß für mich der Wert dieser etwa halbjährigen Religionsunterweisung nicht in dem liege, was wir hier gelernt hatten, sondern in der Nähe und dem Einfluß Demians. Nicht in die Kirche war ich nun bereit aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in einen Orden des Gedankens und der Persönlichkeit, der irgendwie auf Erden existieren mußte und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund empfand.

Ich suchte diesen Gedanken zurückzudrängen, es war mir Ernst damit, die Feier der Konfirmation, trotz allem, mit einer gewissen Würde zu erleben, und diese schien sich mit meinem neuen Gedanken wenig zu vertragen. Doch ich mochte tun, was ich wollte, der Gedanke war da, und er verband sich mir allmählich mit dem an die nahe kirchliche Feier, ich war bereit, sie anders zu begehen als die andern, sie sollte für mich die Aufnahme in eine Gedankenwelt bedeuten, wie ich sie in Demian kennengelernt hatte.

In jenen Tagen war es, daß ich wieder einmal lebhaft mit ihm disputierte; es war gerade vor einer Unterweisungsstunde. Mein Freund war zugeknöpft und hatte keine Freude an meinen Reden, die wohl ziemlich altklug und wichtigtuerisch waren.

„Wir reden zu viel,“ sagte er mit ungewohntem Ernst. „Das kluge Reden hat gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt nur von sich selber weg. Von sich selber Wegkommen ist Sünde. Man muß sich in sich selber völlig verkriechen können wie eine Schildkröte.“

Gleich darauf betraten wir den Schulsaal. Die Stunde begann, ich gab mir Mühe, aufzumerken, und Demian störte mich darin nicht. Nach einer Weile begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz unversehens leer geworden. Als das Gefühl beengend zu werden anfing, drehte ich mich um.

Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und in guter Haltung wie sonst. Aber er sah dennoch ganz anders aus als sonst, und etwas ging von ihm aus, etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen geschlossen, sah aber, daß er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie waren nicht sehend, sie waren starr und nach Innen oder in eine große Ferne gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht, sein Mund war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß, gleichmäßig bleich, wie Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste an ihm. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht schlaff, sondern wie feste, gute Hüllen um ein verborgnes starkes Leben.

Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich es laut. Aber ich wußte, daß er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus, so wie dieser, so steinern, uralt, tierhaft, steinhaft, schön und kalt, tot und heimlich voll von unerhörtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere, dieser Äther und Sternenraum, dieser einsame Tod!

„Jetzt ist der ganz in sich hineingegangen,“ fühlte ich unter Schauern. Nie war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der Welt gewesen wäre.

Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle mußten aufschauern! Aber niemand gab acht auf ihn. Er saß bildhaft und, wie ich denken mußte, sonderbar götzenhaft steif, eine Fliege setzte sich auf seine Stirn, lief langsam über Nase und Lippen hinweg — er zuckte mit keiner Falte.

Wo, wo war er jetzt? Was dachte er, was fühlte er? War er in einem Himmel, in einer Hölle?

Es war mir nicht möglich, ihn darüber zu fragen. Als ich ihn, am Ende der Stunde, wieder leben und atmen sah, als sein Blick meinem begegnete, war er wie früher. Wo kam er her? Wo war er gewesen? Er schien müde. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, seine Hände bewegten sich wieder, das braune Haar aber war jetzt glanzlos und wie ermüdet.

In den folgenden Tagen gab ich mich in meinem Schlafzimmer mehrmals einer neuen Übung hin: ich setzte mich steil auf einen Stuhl, machte die Augen starr, hielt mich vollkommen regungslos, und wartete, wie lange ich es aushalten und was ich dabei empfinden werde. Ich wurde jedoch bloß müde und bekam ein heftiges Jucken in den Augenlidern.

Bald nachher war die Konfirmation, an welche mir keine wichtigen Erinnerungen geblieben sind.

Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Trümmer. Die Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren mir ganz fremd geworden. Eine Ernüchterung verfälschte und verblaßte mir die gewohnten Gefühle und Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen, fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch. So fällt um einen herbstlichen Baum her das Laub, er fühlt es nicht, Regen rinnt an ihm herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich langsam ins Engste und Innerste zurück. Er stirbt nicht. Er wartet.

Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule und zum ersten Male von Hause fortkommen sollte. Zuweilen näherte sich mir die Mutter mit besonderer Zärtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bemüht, mir Liebe, Heimweh und Unvergeßlichkeit ins Herz zu zaubern. Demian war verreist. Ich war allein.

Viertes Kapitel
Beatrice

Ohne meinen Freund wiedergesehen zu haben, fuhr ich am Ende der Ferien nach St. Meine Eltern kamen beide mit, und übergaben mich mit jeder möglichen Sorgfalt dem Schutz einer Knabenpension bei einem Lehrer des Gymnasiums. Sie wären vor Entsetzen erstarrt, wenn sie gewußt hätten, in was für Dinge sie mich nun hineinwandern ließen.

Die Frage war noch immer, ob mit der Zeit aus mir ein guter Sohn und brauchbarer Bürger werden könne, oder ob meine Natur auf andere Wege hindränge. Mein letzter Versuch, im Schatten des väterlichen Hauses und Geistes glücklich zu sein, hatte lang gedauert, war zeitweise nahezu geglückt, und schließlich doch völlig gescheitert.

Die merkwürdige Leere und Vereinsamung, die ich während der Ferien nach meiner Konfirmation zum erstenmal zu fühlen bekam (wie lernte ich sie später noch kennen, diese Leere, diese dünne Luft!), ging nicht so rasch vorüber. Der Abschied von der Heimat gelang sonderbar leicht, ich schämte mich eigentlich, daß ich nicht wehmütiger war, die Schwestern weinten grundlos, ich konnte es nicht. Ich war über mich selbst erstaunt. Immer war ich ein gefühlvolles Kind gewesen, und im Grunde ein ziemlich gutes Kind. Jetzt war ich ganz verwandelt. Ich verhielt mich völlig gleichgültig gegen die äußere Welt, und war tagelang nur damit beschäftigt, in mich hineinzuhorchen und die Ströme zu hören, die verbotenen und dunklen Ströme, die da in mir unterirdisch rauschten. Ich war sehr rasch gewachsen, erst im letzten halben Jahre, und sah aufgeschossen, mager und unfertig in die Welt. Die Liebenswürdigkeit des Knaben war ganz von mir geschwunden, ich fühlte selbst, daß man mich so nicht lieben könne, und liebte mich selber auch keineswegs. Nach Max Demian hatte ich oft große Sehnsucht; aber nicht selten haßte ich auch ihn und gab ihm schuld an der Verarmung meines Lebens, die ich wie eine häßliche Krankheit auf mich nahm.

In unsrem Schülerpensionat wurde ich anfangs weder geliebt noch geachtet, man hänselte mich erst, zog sich dann von mir zurück, und sah einen Duckmäuser und unangenehmen Sonderling in mir. Ich gefiel mir in der Rolle, übertrieb sie noch, und grollte mich in eine Einsamkeit hinein, die nach außen beständig wie männlichste Weltverachtung aussah, während ich heimlich oft verzehrenden Anfällen von Wehmut und Verzweiflung unterlag. In der Schule hatte ich an aufgehäuften Kenntnissen von Zuhause zu zehren, die Klasse war etwas gegen meine frühere zurück, und ich gewöhnte mir an, meine Altersgenossen etwas verächtlich als Kinder anzusehen.

Ein Jahr und länger lief das so dahin, auch die ersten Ferienbesuche zu Hause brachten keine neuen Klänge; ich fuhr gerne wieder weg.

Es war zu Beginn des November. Ich hatte mir angewöhnt, bei jedem Wetter kleine, denkerische Spaziergänge zu machen, auf denen ich oft eine Art von Wonne genoß, eine Wonne voll Melancholie, Weltverachtung und Selbstverachtung. So schlenderte ich eines Abends in der feuchten, nebligen Dämmerung durch die Umgebung der Stadt, die breite Allee eines öffentlichen Parkes stand völlig verlassen und lud mich ein, der Weg lag dick voll gefallener Blätter, in denen ich mit dunkler Wollust mit den Füßen wühlte, es roch feucht und bitter, die fernen Bäume traten gespenstisch groß und schattenhaft aus den Nebeln.

Am Ende der Allee blieb ich unschlüssig stehen, starrte in das schwarze Laub und atmete mit Gier den nassen Duft von Verwitterung und Absterben, den etwas in mir erwiderte und begrüßte. O wie fad das Leben schmeckte!

Aus einem Nebenwege kam im wehenden Kragenmantel ein Mensch daher, ich wollte weitergehen, da rief er mich an.

„Halloh, Sinclair!“

Er kam heran, es war Alfons Beck, der Älteste unserer Pension. Ich sah ihn immer gern und hatte nichts gegen ihn, als daß er mit mir wie mit allen Jüngeren immer ironisch und onkelhaft war. Er galt für bärenstark, sollte den Herrn unsrer Pension unter dem Pantoffel haben und war der Held vieler Gymnasiastengerüchte.

„Was machst denn du hier?“ rief er leutselig mit dem Ton, den die Größeren hatten, wenn sie gelegentlich sich zu einem von uns herabließen. „Na, wollen wir wetten, du machst Gedichte?“

„Fällt mir nicht ein,“ lehnte ich barsch ab.

Er lachte auf, ging neben mir und plauderte, wie ich es gar nicht mehr gewohnt war.

„Du brauchst nicht Angst zu haben, Sinclair, daß ich das etwa nicht verstehe. Es hat ja etwas, wenn man so am Abend im Nebel geht, so mit Herbstgedanken, man macht dann gern Gedichte, ich weiß schon. Von der sterbenden Natur, natürlich, und von der verlorenen Jugend, die ihr gleicht. Siehe Heinrich Heine.“

„Ich bin nicht so sentimental,“ wehrte ich mich.

„Na, laß gut sein! Aber bei diesem Wetter, scheint mir, tut der Mensch gut, einen stillen Ort zu suchen, wo es ein Glas Wein oder dergleichen gibt. Kommst du ein bißchen mit? Ich bin grade ganz allein. — Oder magst du nicht? Deinen Verführer möchte ich nicht machen, Lieber, falls du ein Musterknabe sein solltest.“

Bald darauf saßen wir in einer kleinen Vorstadtkneipe, tranken einen zweifelhaften Wein und stießen mit den dicken Gläsern an. Es gefiel mir zuerst wenig, immerhin war es etwas Neues. Bald aber wurde ich, des Weines ungewohnt, sehr gesprächig. Es war, als sei ein Fenster in mir aufgestoßen, die Welt schien herein — wie lang, wie furchtbar lang hatte ich mir nichts von der Seele geredet! Ich kam ins Phantasieren, und mitten drinne gab ich die Geschichte von Kain und Abel zum besten!

Beck hörte mir mit Vergnügen zu — endlich jemand, dem ich etwas gab! Er klopfte mir auf die Schulter, er nannte mich einen Teufelskerl und ein geniales Luder, und mir schwoll das Herz hoch auf vor Wonne, angestaute Bedürfnisse der Rede und Mitteilung schwelgerisch hinströmen zu lassen, anerkannt zu sein und bei einem Älteren etwas zu gelten. Als er mich ein geniales Luder nannte, lief mir das Wort wie ein süßer, starker Wein in die Seele. Die Welt brannte in neuen Farben, Gedanken flossen mir aus hundert kecken Quellen zu, Geist und Feuer lohte in mir. Wir sprachen über Lehrer und Kameraden, und mir schien, wir verstünden einander herrlich. Wir sprachen von den Griechen und vom Heidentum, und Beck wollte mich durchaus zu Geständnissen über Liebesabenteuer bringen. Da konnte ich nun nicht mitreden. Erlebt hatte ich nichts, nichts zum Erzählen. Und was ich in mir gefühlt, konstruiert, phantasiert hatte, das saß zwar brennend in mir, war aber auch durch den Wein nicht gelöst und mitteilbar geworden. Von den Mädchen wußte Beck viel mehr, und ich hörte diesen Märchen glühend zu. Unglaubliches erfuhr ich da, nie für möglich Gehaltenes trat in die platte Wirklichkeit, schien selbstverständlich. Alfons Beck hatte mit seinen vielleicht achtzehn Jahren schon Erfahrungen gesammelt. Unter anderen die, daß es mit den Mädchen so eine Sache sei, sie wollten nichts als schöntun und Galanterien haben, und das war ja ganz hübsch, aber doch nicht das Wahre. Da sei mehr Erfolg bei Frauen zu hoffen. Frauen seien viel gescheiter. Zum Beispiel die Frau Jaggelt, die den Laden mit den Schulheften und Bleistiften hatte, mit der ließ sich reden, und was hinter ihrem Ladentisch schon alles geschehen sei, das gehe in kein Buch.

Ich saß tief bezaubert und benommen. Allerdings, ich hätte die Frau Jaggelt nicht gerade lieben können — aber immerhin, es war unerhört. Es schienen da Quellen zu fließen, wenigstens für die Älteren, von denen ich nie geträumt hatte. Ein falscher Klang war ja dabei, und es schmeckte alles geringer und alltäglicher als nach meiner Meinung die Liebe schmecken durfte, — aber immerhin, es war Wirklichkeit, es war Leben und Abenteuer, es saß einer neben mir, der es erlebt hatte, dem es selbstverständlich schien.

Unsere Gespräche waren ein wenig herabgestiegen, hatten etwas verloren. Ich war auch nicht mehr der geniale kleine Kerl, ich war jetzt bloß noch ein Knabe, der einem Manne zuhörte. Aber auch so noch — gegen das, was seit Monaten und Monaten mein Leben gewesen war, war dies köstlich, war dies paradiesisch. Außerdem war es, wie ich erst allmählich zu fühlen begann, verboten, sehr verboten, vom Wirtshaussitzen bis zu dem, was wir sprachen. Ich jedenfalls schmeckte Geist, schmeckte Revolution darin.

Ich erinnere mich jener Nacht mit größter Deutlichkeit. Als wir beide, spät an trüb brennenden Gaslaternen vorbei, in der kühlen nassen Nacht unsern Heimweg nahmen, war ich zum erstenmal betrunken. Es war nicht schön, es war äußerst qualvoll, und doch hatte auch das noch etwas, einen Reiz, eine Süßigkeit, war Aufstand und Orgie, war Leben und Geist. Beck nahm sich meiner tapfer an, obwohl er bitter über mich als blutigen Anfänger schalt, und er brachte mich, halb getragen, nach Hause, wo es ihm gelang, mich und sich durch ein offenstehendes Flurfenster einzuschmuggeln.

Mit der Ernüchterung aber, zu der ich nach ganz kurzem toten Schlaf mit Schmerzen erwachte, kam ein unsinniges Weh über mich. Ich saß im Bette auf, hatte das Taghemd noch an, meine Kleider und Schuhe lagen am Boden umher und rochen nach Tabak und Erbrochenem, und zwischen Kopfweh, Übelkeit und rasendem Durstgefühl kam mir ein Bild vor die Seele, dem ich lange nicht mehr ins Auge gesehen hatte. Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles heimatliches Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die Konfirmationsstunden — und alles dies war licht, alles war von Glanz umflossen, alles war wunderbar, göttlich und rein, und alles, alles das hatte — so wußte ich jetzt — noch gestern, noch vor Stunden, mir gehört, auf mich gewartet, und war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken und verflucht, gehörte mir nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste goldenste Kindheitsgärten zurück von meinen Eltern erfahren hatte, jeder Kuß der Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume im Garten — alles war verwüstet, alles hatte ich mit Füßen getreten! Wenn jetzt Häscher gekommen wären und hätten mich gebunden und als Auswurf und Tempelschänder zum Galgen geführt, ich wäre einverstanden gewesen, wäre gern gegangen, hätte es richtig und gut gefunden.

Also so sah ich innerlich aus! Ich, der herumging und die Welt verachtete! Ich, der stolz im Geist war und Gedanken Demians mitdachte! So sah ich aus, ein Auswurf und Schweinigel, betrunken und beschmutzt, ekelhaft und gemein, eine wüste Bestie, von scheußlichen Trieben überrumpelt! So sah ich aus, ich, der aus jenen Gärten kam, wo alles Reinheit, Glanz und holde Zartheit war, ich, der ich Musik von Bach und schöne Gedichte geliebt hatte! Ich hörte noch mit Ekel und Empörung mein eigenes Lachen, ein betrunkenes, unbeherrschtes, stoßweis und albern herausbrechendes Lachen. Das war Ich!

Trotz allem aber war es beinahe ein Genuß, diese Qualen zu leiden. So lange war ich blind und stumpf dahingekrochen, so lange hatte mein Herz geschwiegen und verarmt im Winkel gesessen, daß auch diese Selbstanklagen, dieses Grauen, dies ganze scheußliche Gefühl der Seele willkommen war. Es war doch Gefühl, es stiegen doch Flammen, es zuckte doch Herz darin! Verwirrt empfand ich mitten im Elend etwas wie Befreiung und Frühling.

Indessen ging es, von außen gesehen, tüchtig bergab mit mir. Der erste Rausch war bald nicht mehr der erste. Es wurde an unsrer Schule viel gekneipt und Allotria getrieben, ich war einer der Allerjüngsten unter denen, die mittaten, und bald war ich kein Geduldeter und Kleiner mehr, sondern ein Anführer und Stern, ein berühmter wagehalsiger Kneipenbesucher. Ich gehörte wieder einmal ganz der dunkeln Welt, dem Teufel an, und ich galt in dieser Welt als ein famoser Kerl.

Dabei war mir jammervoll zumute. Ich lebte in einem selbstzerstörerischen Orgiasmus dahin, und während ich bei den Kameraden für einen Führer und Teufelskerl, für einen verflucht schneidigen und witzigen Burschen galt, hatte ich tief in mir eine angstvolle Seele voller Bangnis flattern. Ich weiß noch, daß mir einmal die Tränen kamen, als ich beim Verlassen einer Kneipe am Sonntagvormittag auf der Straße Kinder spielen sah, hell und vergnügt mit frischgekämmtem Haar und in Sonntagskleidern. Und während ich, zwischen Bierlachen an schmutzigen Tischen geringer Wirtshäuser, meine Freunde durch unerhörte Zynismen belustigte und oft erschreckte, hatte ich im verborgenen Herzen Ehrfurcht vor allem, was ich verhöhnte, und lag innerlich weinend auf den Knien vor meiner Seele, vor meiner Vergangenheit, vor meiner Mutter, vor Gott.

Daß ich niemals eins wurde mit meinen Begleitern, daß ich unter ihnen einsam blieb und darum so leiden konnte, das hatte einen guten Grund. Ich war ein Kneipenheld und Spötter nach dem Herzen der Rohesten, ich zeigte Geist und zeigte Mut in meinen Gedanken und Reden über Lehrer, Schule, Eltern, Kirche — ich hielt auch Zoten stand und wagte etwa selber eine — aber ich war niemals dabei, wenn meine Kumpane zu Mädchen gingen, ich war allein und war voll glühender Sehnsucht nach Liebe, hoffnungsloser Sehnsucht, während ich nach meinen Reden ein abgebrühter Genießer hätte sein müssen. Niemand war verletzlicher, niemand schamhafter als ich. Und wenn ich je und je die jungen Bürgermädchen vor mir gehen sah, hübsch und sauber, licht und anmutig, waren sie mir wunderbare, reine Träume, tausendmal zu gut und rein für mich. Eine Zeitlang konnte ich auch nicht mehr in den Papierladen der Frau Jaggelt gehen, weil ich rot wurde, wenn ich sie ansah und an das dachte, was Alfons Beck mir von ihr erzählt hatte.

Je mehr ich nun auch in meiner neuen Gesellschaft mich fortwährend einsam und anders wußte, desto weniger kam ich von ihr los. Ich weiß wirklich nicht mehr, ob das Saufen und Renommieren mir eigentlich jemals Vergnügen machte, auch gewöhnte ich mich an das Trinken niemals so, daß ich nicht jedesmal peinliche Folgen gespürt hätte. Es war alles wie ein Zwang. Ich tat, was ich mußte, weil ich sonst durchaus nicht wußte, was mit mir beginnen. Ich hatte Furcht vor langem Alleinsein, hatte Angst vor den vielen zarten, schamhaften, innigen Anwandlungen, zu denen ich mich stets geneigt fühlte, hatte Angst vor den zarten Liebesgedanken, die mir so oft kamen.

Eines fehlte mir am meisten — ein Freund. Es gab zwei oder drei Mitschüler, die ich sehr gerne sah. Aber sie gehörten zu den Braven, und meine Laster waren längst niemandem mehr ein Geheimnis. Sie mieden mich. Ich galt bei allen für einen hoffnungslosen Spieler, dem der Boden unter den Füßen wankte. Die Lehrer wußten viel von mir, ich war mehrmals streng bestraft worden, meine schließliche Entlassung aus der Schule war etwas, worauf man wartete. Ich selbst wußte das, ich war auch schon lange kein guter Schüler mehr, sondern drückte und schwindelte mich mühsam durch, mit dem Gefühl, daß das nicht mehr lange dauern könne.

Es gibt viele Wege, auf denen der Gott uns einsam machen und zu uns selber führen kann. Diesen Weg ging er damals mit mir. Es war wie ein arger Traum. Über Schmutz und Klebrigkeit, über zerbrochene Biergläser und zynisch durchschwatzte Nächte weg sehe ich mich, einen gebannten Träumer, ruhelos und gepeinigt kriechen, einen häßlichen und unsaubern Weg. Es gibt solche Träume, in denen man, auf dem Weg zur Prinzessin, in Kotlachen, in Hintergassen voll Gestank und Unrat steckenbleibt. So ging es mir. Auf diese wenig feine Art war es mir beschieden, einsam zu werden und zwischen mich und die Kindheit ein verschlossenes Edentor mit erbarmungslos strahlenden Wächtern zu bringen. Es war ein Beginn, ein Erwachen des Heimwehs nach mir selber.

Ich erschrak noch und hatte Zuckungen, als zum erstenmal, durch Briefe meines Pensionsherrn alarmiert, mein Vater in St. erschien und mir unerwartet gegenübertrat. Als er, gegen Ende jenes Winters, zum zweitenmal kam, war ich schon hart und gleichgültig, ließ ihn schelten, ließ ihn bitten, ließ ihn an die Mutter erinnern. Er war zuletzt sehr aufgebracht und sagte, wenn ich nicht anders werde, lasse er mich mit Schimpf und Schande von der Schule jagen und stecke mich in eine Besserungsanstalt. Mochte er! Als er damals abreiste, tat er mir leid, aber er hatte nichts erreicht, er hatte keinen Weg mehr zu mir gefunden, und für Augenblicke fühlte ich, es geschehe ihm recht. —

Was aus mir würde, war mir einerlei. Auf meine sonderbare und wenig hübsche Art, mit meinem Wirtshaussitzen und Auftrumpfen lag ich im Streit mit der Welt, dies war meine Form, zu protestieren. Ich machte mich dabei kaputt, und zuweilen sah für mich die Sache etwa so aus: Wenn die Welt Leute wie mich nicht brauchen konnte, wenn sie für sie keinen besseren Platz, keine höhern Aufgaben hatte, nun so gingen Leute wie ich eben kaputt. Mochte die Welt den Schaden haben.

Die Weihnachtsferien jenes Jahres waren recht unerfreulich. Meine Mutter erschrak, als sie mich wiedersah. Ich war noch mehr gewachsen, und mein hageres Gesicht sah grau und verwüstet aus, mit schlaffen Zügen und entzündeten Augenrändern. Der erste Anflug des Schnurrbartes und die Brille, die ich seit kurzem trug, machten mich ihr noch fremder. Die Schwestern wichen zurück und kicherten. Es war alles unerquicklich. Unerquicklich und bitter das Gespräch mit dem Vater in dessen Studierzimmer, unerquicklich das Begrüßen der paar Verwandten, unerquicklich vor allem der Weihnachtsabend. Das war, seit ich lebte, in unsrem Hause der große Tag gewesen, der Abend der Festlichkeit und Liebe, der Dankbarkeit, der Erneuerung des Bundes zwischen den Eltern und mir. Diesmal war alles nur bedrückend und verlegenmachend. Wie sonst las mein Vater das Evangelium von den Hirten auf dem Felde, „die hüteten allda ihre Herde,“ wie sonst standen die Schwestern strahlend vor ihrem Gabentisch, aber die Stimme des Vaters klang unfroh, und sein Gesicht sah alt und beengt aus, und die Mutter war traurig, und mir war alles gleich peinlich und unerwünscht, Gaben und Glückwünsche, Evangelium und Lichterbaum. Die Lebkuchen rochen süß und strömten dichte Wolken süßerer Erinnerungen aus. Der Tannenbaum duftete und erzählte von Dingen, die nicht mehr waren. Ich sehnte das Ende des Abends und der Feiertage herbei.

Es ging den ganzen Winter so weiter. Erst vor kurzem war ich eindringlich vom Lehrersenat verwarnt und mit dem Ausschluß bedroht worden. Es würde nicht lang mehr dauern. Nun, meinetwegen.

Einen besonderen Groll hatte ich gegen Max Demian. Den hatte ich nun die ganze Zeit nicht mehr gesehen. Ich hatte ihm, am Beginn meiner Schülerzeit in St., zweimal geschrieben, aber keine Antwort bekommen; darum hatte ich ihn auch in den Ferien nicht besucht.

 

In demselben Park, wo ich im Herbst mit Alfons Beck zusammengetroffen war, geschah es im beginnenden Frühling, als eben die Dornhecken grün zu werden anfingen, daß ein Mädchen mir auffiel. Ich war allein spazierengegangen, voll von widerlichen Gedanken und Sorgen, denn meine Gesundheit war schlecht geworden, und außerdem war ich beständig in Geldverlegenheiten, war Kameraden Beträge schuldig, mußte notwendige Ausgaben erfinden, um wieder etwas von Hause zu erhalten, und hatte in mehreren Läden Rechnungen für Zigarren und ähnliche Dinge anwachsen lassen. Nicht daß diese Sorgen sehr tief gegangen wären — wenn nächstens einmal mein Hiersein sein Ende nahm und ich ins Wasser ging oder in die Besserungsanstalt gebracht wurde, dann kam es auf diese paar Kleinigkeiten auch nimmer an. Aber ich lebte doch immerzu Aug in Auge mit solchen unschönen Sachen, und litt darunter.

An jenem Frühlingstag im Park begegnete mir eine junge Dame, die mich sehr anzog. Sie war groß und schlank, elegant gekleidet, und hatte ein kluges Knabengesicht. Sie gefiel mir sofort, sie gehörte dem Typ an, den ich liebte, und sie begann meine Phantasien zu beschäftigen. Sie war wohl kaum viel älter als ich, aber viel fertiger, elegant und wohl umrissen, schon fast ganz Dame, aber mit einem Anflug von Übermut und Jungenhaftigkeit im Gesicht, den ich überaus gern hatte.

Es war mir nie geglückt, mich einem Mädchen zu nähern, in das ich verliebt war, und es glückte mir auch bei dieser nicht. Aber der Eindruck war tiefer als alle früheren, und der Einfluß dieser Verliebtheit auf mein Leben war gewaltig.

Plötzlich hatte ich wieder ein Bild vor mir stehen, ein hohes und verehrtes Bild — ach, und kein Bedürfnis, kein Drang war so tief und heftig in mir wie der Wunsch nach Ehrfurcht und Anbetung! Ich gab ihr den Namen Beatrice, denn von ihr wußte ich, ohne Dante gelesen zu haben, aus einem englischen Gemälde, dessen Reproduktion ich mir aufbewahrt hatte. Dort war es eine englisch-präraffaelitische Mädchenfigur, sehr langgliedrig und schlank mit schmalem langem Kopf und vergeistigten Händen und Zügen. Mein schönes junges Mädchen glich ihr nicht ganz, obwohl auch sie diese Schlankheit und Knabenhaftigkeit der Formen zeigte, die ich liebte, und etwas von der Vergeistigung oder Beseelung des Gesichts.

Ich habe mit Beatrice nicht ein einziges Wort gesprochen. Dennoch hat sie damals den tiefsten Einfluß auf mich geübt. Sie stellte ihr Bild vor mir auf, sie öffnete mir ein Heiligtum, sie machte mich zum Beter in einem Tempel. Von einem Tag auf den andern blieb ich von den Kneipereien und nächtlichen Streifzügen weg. Ich konnte wieder allein sein, ich las wieder gern, ich ging wieder gern spazieren.

Die plötzliche Bekehrung trug mir Spott genug ein. Aber ich hatte nun etwas zu lieben und anzubeten, ich hatte wieder ein Ideal, das Leben war wieder voll von Ahnung und bunt geheimnisvoller Dämmerung — das machte mich unempfindlich. Ich war wieder bei mir selbst zu Hause, obwohl nur als Sklave und Dienender eines verehrten Bildes.

An jene Zeit kann ich nicht ohne eine gewisse Rührung denken. Wieder versuchte ich mit innigstem Bemühen, aus Trümmern einer zusammengebrochenen Lebensperiode mir eine „lichte Welt“ zu bauen, wieder lebte ich ganz in dem einzigen Verlangen, das Dunkle und Böse in mir abzutun und völlig im Lichten zu weilen, auf Knien vor Göttern. Immerhin war diese jetzige „lichte Welt“ einigermaßen meine eigene Schöpfung; es war nicht mehr ein Zurückfliehen und Unterkriechen zur Mutter und verantwortungslosen Geborgenheit, es war ein neuer, von mir selbst erfundener und geforderter Dienst, mit Verantwortlichkeit und Selbstzucht. Die Geschlechtlichkeit, unter der ich litt und vor der ich immer und immer auf der Flucht war, sollte nun in diesem heiligen Feuer zu Geist und Andacht verklärt werden. Es durfte nichts Finsteres mehr, nichts Häßliches geben, keine durchstöhnten Nächte, kein Herzklopfen vor unzüchtigen Bildern, kein Lauschen an verbotenen Pforten, keine Lüsternheit. Statt alles dessen richtete ich meinen Altar ein, mit dem Bilde Beatricens, und indem ich mich ihr weihte, weihte ich mich dem Geist und den Göttern. Den Lebensanteil, den ich den finsteren Mächten entzog, brachte ich den lichten zum Opfer. Nicht Lust war mein Ziel, sondern Reinheit, nicht Glück, sondern Schönheit und Geistigkeit.