Dieser Kult der Beatrice änderte mein Leben ganz und gar. Gestern noch ein frühreifer Zyniker, war ich jetzt ein Tempeldiener, mit dem Ziel, ein Heiliger zu werden. Ich tat nicht nur das üble Leben ab, an das ich mich gewöhnt hatte, ich suchte alles zu ändern, suchte Reinheit, Adel und Würde in alles zu bringen, dachte hieran in Essen und Trinken, Sprache und Kleidung. Ich begann den Morgen mit kalten Waschungen, zu denen ich mich anfangs schwer zwingen mußte. Ich benahm mich ernst und würdig, trug mich aufrecht und machte meinen Gang langsamer und würdiger. Für Zuschauer mag es komisch ausgesehen haben — bei mir innen war es lauter Gottesdienst.
Von all den neuen Übungen, in denen ich Ausdruck für meine neue Gesinnung suchte, wurde eine mir wichtig. Ich begann zu malen. Es fing damit an, daß das englische Beatricebild, das ich besaß, jenem Mädchen nicht ähnlich genug war. Ich wollte versuchen, sie für mich zu malen. Mit einer ganz neuen Freude und Hoffnung trug ich in meinem Zimmer — ich hatte seit kurzem ein eigenes — schönes Papier, Farben und Pinsel zusammen, machte Palette, Glas, Porzellanschalen, Bleistifte zurecht. Die feinen Temperafarben in kleinen Tuben, die ich gekauft hatte, entzückten mich. Es war ein feuriges Chromoxydgrün dabei, das ich noch zu sehen meine, wie es erstmals in der kleinen weißen Schale aufleuchtete.
Ich begann mit Vorsicht. Ein Gesicht zu malen, war schwer, ich wollte es erst mit andrem probieren. Ich malte Ornamente, Blumen und kleine phantasierte Landschaften, einen Baum bei einer Kapelle, eine römische Brücke mit Zypressen. Manchmal verlor ich mich ganz in dies spielende Tun, war glücklich wie ein Kind mit einer Farbenschachtel. Schließlich aber begann ich, Beatrice zu malen.
Einige Blätter mißglückten ganz und wurden weggetan. Je mehr ich mir das Gesicht des Mädchens vorzustellen suchte, das ich je und je auf der Straße antraf, desto weniger wollte es gehen. Schließlich tat ich darauf Verzicht und begann einfach ein Gesicht zu malen, der Phantasie und den Führungen folgend, die sich aus dem Begonnenen, aus Farbe und Pinsel von selber ergaben. Es war ein geträumtes Gesicht, das dabei herauskam, und ich war nicht unzufrieden damit. Doch setzte ich den Versuch sogleich fort, und jedes neue Blatt sprach etwas deutlicher, kam dem Typ näher, wenn auch keineswegs der Wirklichkeit.
Mehr und mehr gewöhnte ich mich daran, mit träumerischem Pinsel Linien zu ziehen und Flächen zu füllen, die ohne Vorbild waren, die sich aus spielendem Tasten, aus dem Unbewußten ergaben. Endlich machte ich eines Tages, fast bewußtlos, ein Gesicht fertig, das stärker als die früheren zu mir sprach. Es war nicht das Gesicht jenes Mädchens, das sollte es auch längst nimmer sein. Es war etwas anderes, etwas Unwirkliches, doch nicht minder Wertvolles. Es sah mehr wie ein Jünglingskopf aus als wie ein Mädchengesicht, das Haar war nicht hellblond wie bei meinem hübschen Mädchen, sondern braun mit rötlichem Hauch, das Kinn war stark und fest, der Mund aber rotblühend, das Ganze etwas steif und maskenhaft, aber eindrücklich und voll von geheimem Leben.
Als ich vor dem fertigen Blatte saß, machte es mir einen seltsamen Eindruck. Es schien mir eine Art von Götterbild oder heiliger Maske zu sein, halb männlich, halb weiblich, ohne Alter, ebenso willensstark wie träumerisch, ebenso starr wie heimlich lebendig. Dies Gesicht hatte mir etwas zu sagen, es gehörte zu mir, es stellte Forderungen an mich. Und es hatte Ähnlichkeit mit irgend jemand, ich wußte nicht mit wem.
Das Bildnis begleitete nun eine Weile alle meine Gedanken und teilte mein Leben. Ich hielt es in einer Schieblade verborgen, niemand sollte es erwischen und mich damit verhöhnen können. Aber sobald ich allein in meinem Stübchen war, zog ich das Bild heraus und hatte Umgang mit ihm. Abends heftete ich es mit einer Nadel mir gegenüber überm Bett an die Tapete, sah es bis zum Einschlafen an, und morgens fiel mein erster Blick darauf.
Gerade in jener Zeit fing ich wieder an viel zu träumen, wie ich es als Kind stets getan hatte. Mir schien, ich habe jahrelang keine Träume mehr gehabt. Jetzt kamen sie wieder, eine ganz neue Art von Bildern, und oft und oft tauchte das gemalte Bildnis darin auf, lebend und redend, mir befreundet oder feindlich, manchmal bis zur Fratze verzogen und manchmal unendlich schön, harmonisch und edel.
Und eines Morgens, als ich aus solchen Träumen erwachte, erkannte ich es plötzlich. Es sah mich so fabelhaft wohlbekannt an, es schien meinen Namen zu rufen. Es schien mich zu kennen, wie eine Mutter, schien mir seit allen Zeiten zugewandt. Mit Herzklopfen starrte ich das Blatt an, die braunen dichten Haare, den halbweiblichen Mund, die starke Stirn mit der sonderbaren Helligkeit (es war von selber so aufgetrocknet), und näher und näher fühlte ich in mir die Erkenntnis, das Wiederfinden, das Wissen.
Ich sprang aus dem Bette, stellte mich vor dem Gesicht auf und sah es aus nächster Nähe an, gerade in die weit offenen, grünlichen, starren Augen hinein, von denen das rechte etwas höher als das andere stand. Und mit einemmal zuckte dies rechte Auge, zuckte leicht und fein, aber deutlich, und mit diesem Zucken erkannte ich das Bild . . .
Wie hatte ich das erst so spät finden können! Es war Demians Gesicht.
Später verglich ich das Blatt oft und oft mit Demians wirklichen Zügen, wie ich sie in meinem Gedächtnis fand. Sie waren gar nicht dieselben, obwohl ähnlich. Aber es war doch Demian.
Einst an einem Frühsommerabend schien die Sonne schräg und rot durch mein Fenster, das nach Westen blickte. Im Zimmer wurde es dämmerig. Da kam ich auf den Einfall, das Bildnis Beatricens, oder Demians, mit der Nadel ans Fensterkreuz zu heften und es anzusehen, wie die Abendsonne hindurch schien. Das Gesicht verschwamm ohne Umrisse, aber die rötlich umrandeten Augen, die Helligkeit auf der Stirn und der heftig rote Mund glühten tief und wild aus der Fläche. Lange saß ich ihm gegenüber, auch als es schon erloschen war. Und allmählich kam mir ein Gefühl, daß das nicht Beatrice und nicht Demian sei, sondern — ich selbst. Das Bild glich mir nicht — das sollte es auch nicht, fühlte ich — aber es war das, was mein Leben ausmachte, es war mein Inneres, mein Schicksal oder mein Dämon. So würde mein Freund aussehen, wenn ich je wieder einen fände. So würde meine Geliebte aussehen, wenn ich je eine bekäme. So würde mein Leben und so mein Tod sein, dies war der Klang und Rhythmus meines Schicksals.
In jenen Wochen hatte ich eine Lektüre begonnen, die mir tieferen Eindruck machte als alles, was ich früher gelesen. Auch später habe ich selten mehr Bücher so erlebt, vielleicht nur noch Nietzsche. Es war ein Band Novalis, mit Briefen und Sentenzen, von denen ich viele nicht verstand und die mich doch alle unsäglich anzogen und umspannen. Einer von den Sprüchen fiel mir nun ein. Ich schrieb ihn mit der Feder unter das Bildnis: „Schicksal und Gemüt sind Namen eines Begriffs.“ Das hatte ich nun verstanden.
Das Mädchen, das ich Beatrice nannte, begegnete mir noch oft. Ich fühlte keine Bewegung mehr dabei, aber stets ein sanftes Übereinstimmen, ein gefühlhaftes Ahnen: Du bist mit mir verknüpft, aber nicht du, nur dein Bild; du bist ein Stück von meinem Schicksal.
Meine Sehnsucht nach Max Demian wurde wieder mächtig. Ich wußte nichts von ihm, seit Jahren nichts. Ein einzigesmal hatte ich ihn in den Ferien angetroffen. Ich sehe jetzt, daß ich diese kurze Begegnung in meinen Aufzeichnungen unterschlagen habe, und sehe, daß es aus Scham und Eitelkeit geschah. Ich muß es nachholen.
Also einmal in den Ferien, als ich mit dem blasierten und stets etwas müden Gesicht meiner Wirtshauszeit durch meine Vaterstadt schlenderte, meinen Spazierstock schwang und den Philistern in die alten, gleichgebliebenen, verachteten Gesichter sah, da kam mir mein ehemaliger Freund entgegen. Kaum sah ich ihn, so zuckte ich zusammen. Und blitzschnell mußte ich an Franz Kromer denken. Möchte doch Demian diese Geschichte wirklich vergessen haben! Es war so unangenehm, diese Verpflichtung gegen ihn zu haben — eigentlich ja eine dumme Kindergeschichte, aber doch eben eine Verpflichtung . . .
Er schien zu warten, ob ich ihn grüßen wolle, und als ich es möglichst gelassen tat, gab er mir die Hand. Das war wieder sein Händedruck! So fest, warm und doch kühl, männlich!
Er sah mir aufmerksam ins Gesicht und sagte: „Du bist groß geworden, Sinclair.“ Er selbst schien mir ganz unverändert, gleich alt, gleich jung wie immer.
Er schloß sich mir an, wir machten einen Spaziergang und sprachen über lauter nebensächliche Dinge, nichts von damals. Es fiel mir ein, daß ich ihm einst mehrmals geschrieben hatte, ohne eine Antwort zu erhalten. Ach, möchte er doch auch das vergessen haben, diese dummen, dummen Briefe! Er sagte nichts davon.
Es gab damals noch keine Beatrice und kein Bildnis, ich war noch mitten in meiner wüsten Zeit. Vor der Stadt lud ich ihn ein, mit in ein Wirtshaus zu kommen. Er ging mit. Prahlerisch bestellte ich eine Flasche Wein, schenkte ein, stieß mit ihm an und zeigte mich mit den studentischen Trinkgebräuchen sehr vertraut, leerte auch das erste Glas auf einen Zug.
„Du gehst viel ins Wirtshaus?“ fragte er mich.
„Ach ja,“ sagte ich träge, „was soll man sonst tun? Es ist am Ende immer noch das Lustigste.“
„Findest du? Es kann schon sein. Etwas daran ist ja sehr schön — der Rausch, das Bacchische! Aber ich finde, bei den meisten Leuten, die viel im Wirtshaus sitzen, ist das ganz verlorengegangen. Mir kommt es so vor, als sei gerade das Wirtshauslaufen etwas richtig Philisterhaftes. Ja, eine Nacht lang, mit brennenden Fackeln, zu einem richtigen, schönen Rausch und Taumel! Aber so immer wieder, ein Schöppchen ums andere, das ist doch wohl nicht das Wahre? Kannst du dir etwa den Faust vorstellen, wie er Abend für Abend an einem Stammtisch sitzt?“
Ich trank und schaute ihn feindselig an.
„Ja, es ist eben nicht jeder ein Faust,“ sagte ich kurz.
Er sah mich etwas stutzig an.
Dann lachte er mit der alten Frische und Überlegenheit.
„Na, wozu darüber streiten? Jedenfalls ist das Leben eines Säufers oder Wüstlings vermutlich lebendiger als das des tadellosen Bürgers. Und dann — ich habe das einmal gelesen — ist das Leben des Wüstlings eine der besten Vorbereitungen für den Mystiker. Es sind ja auch immer solche Leute wie der heilige Augustin, die zu Sehern werden. Der war vorher auch ein Genießer und Lebemann.“
Ich war mißtrauisch und wollte mich keineswegs von ihm meistern lassen. So sagte ich blasiert: „Ja, jeder nach seinem Geschmack! Mir ist es, offen gestanden, gar nicht darum zu tun, ein Seher oder so etwas zu werden.“
Demian blitzte mich aus leicht eingekniffenen Augen wissend an.
„Lieber Sinclair,“ sagte er langsam, „es war nicht meine Absicht, dir Unangenehmes zu sagen. Übrigens — zu welchem Zweck du jetzt deine Schoppen trinkst, wissen wir ja beide nicht. Das in dir, was dein Leben macht, weiß es schon. Es ist so gut, das zu wissen: daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß, alles will, alles besser macht als wir selber. — Aber verzeih, ich muß nach Hause.“
Wir nahmen kurzen Abschied. Ich blieb sehr mißmutig sitzen, trank meine Flasche vollends aus, und fand, als ich gehen wollte, daß Demian sie schon bezahlt hatte. Das ärgerte mich noch mehr.
Bei dieser kleinen Begebenheit hielten nun meine Gedanken wieder an. Sie waren voll von Demian. Und die Worte, die er in jenem Gasthaus vor der Stadt gesagt, kamen in meinem Gedächtnis wieder hervor, seltsam frisch und unverloren. — „Es ist so gut, das zu wissen, daß in uns drinnen einer ist, der alles weiß!“
Ich blickte auf das Bild, das am Fenster hing und ganz erloschen war. Aber ich sah die Augen noch glühen. Das war der Blick Demians. Oder es war der, der in mir drinnen war. Der, der alles weiß.
Wie hatte ich Sehnsucht nach Demian! Ich wußte nichts von ihm, er war mir nicht erreichbar. Ich wußte nur, daß er vermutlich irgendwo studiere und daß nach dem Abschluß seiner Gymnasiastenzeit seine Mutter unsere Stadt verlassen habe.
Bis zu meiner Geschichte mit Kromer zurück suchte ich alle Erinnerungen an Max Demian in mir hervor. Wie vieles klang da wieder auf, was er mir einst gesagt hatte, und alles hatte heut noch Sinn, war aktuell, ging mich an! Auch das, was er bei unsrem letzten, so wenig erfreulichen Zusammentreffen über den Wüstling und den Heiligen gesagt hatte, stand mir plötzlich hell vor der Seele. War es nicht genau so mit mir gegangen? Hatte ich nicht in Rausch und Schmutz gelebt, in Betäubung und Verlorenheit, bis mit einem neuen Lebensantrieb gerade das Gegenteil in mir lebendig geworden war, das Verlangen nach Reinheit, die Sehnsucht nach dem Heiligen?
So ging ich weiter den Erinnerungen nach, es war längst Nacht geworden und draußen regnete es. Auch in meinen Erinnerungen hörte ich es regnen, es war die Stunde unter den Kastanienbäumen, wo er mich einst wegen Franz Kromer ausgefragt und meine ersten Geheimnisse erraten hatte. Eines ums andre kam hervor, Gespräche auf dem Schulweg, die Konfirmationsstunden. Und zuletzt fiel mein allererstes Zusammentreffen mit Max Demian mir ein. Um was hatte es sich doch da gehandelt? Ich kam nicht gleich darauf, aber ich ließ mir Zeit, ich war ganz darein versunken. Und nun kam es wieder, auch das. Wir waren vor unserem Hause gestanden, nachdem er mir seine Meinung über Kain mitgeteilt hatte. Da hatte er von dem alten verwischten Wappen gesprochen, das über unsrem Haustor saß, in dem von unten nach oben breiter werdenden Schlußstein. Er hatte gesagt, es interessiere ihn, und man müsse auf solche Sachen acht haben.
In der Nacht träumte ich von Demian und von dem Wappen. Es verwandelte sich beständig, Demian hielt es in Händen, oft war es klein und grau, oft mächtig groß und vielfarbig, aber er erklärte mir, daß es doch immer ein und dasselbe sei. Zuletzt aber nötigte er mich, das Wappen zu essen. Als ich es geschluckt hatte, spürte ich mit ungeheurem Erschrecken, daß der verschlungene Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausfülle und von innen zu verzehren beginne. Voller Todesangst fuhr ich auf und erwachte.
Ich wurde munter, es war mitten in der Nacht, und hörte es ins Zimmer regnen. Ich stand auf, um das Fenster zu schließen, und trat dabei auf etwas Helles, das am Boden lag. Am Morgen fand ich, daß es mein gemaltes Blatt war. Es lag in der Nässe am Boden und hatte sich in Wülste geworfen. Ich spannte es zum Trocknen zwischen Fließblätter in ein schweres Buch. Als ich am nächsten Tage wieder danach sah, war es getrocknet. Es hatte sich aber verändert. Der rote Mund war verblaßt und etwas schmäler geworden. Es war jetzt ganz der Mund Demians.
Ich ging nun daran, ein neues Blatt zu malen, den Wappenvogel. Wie er eigentlich aussah, wußte ich nicht mehr deutlich, und einiges daran war, wie ich wußte, auch aus der Nähe nicht gut mehr zu erkennen, da das Ding alt und oftmals mit Farbe überstrichen worden war. Der Vogel stand oder saß auf etwas, vielleicht auf einer Blume, oder auf einem Korb oder Nest, oder auf einer Baumkrone. Ich kümmerte mich nicht darum und fing mit dem an, wovon ich eine deutliche Vorstellung hatte. Aus einem unklaren Bedürfnis begann ich gleich mit starken Farben, der Kopf des Vogels war auf meinem Blatte goldgelb. Je nach Laune machte ich daran weiter und brachte das Ding in einigen Tagen fertig.
Nun war es ein Raubvogel, mit einem scharfen kühnen Sperberkopf. Er stak mit halbem Leibe in einer dunkeln Weltkugel, aus der er sich wie aus einem riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde. Wie ich das Blatt länger betrachtete, schien es mir mehr und mehr, als sei es das farbige Wappen, wie es in meinem Traum vorgekommen war.
Einen Brief an Demian zu schreiben, wäre mir nicht möglich gewesen, auch wenn ich gewußt hätte wohin. Ich beschloß aber, in demselben traumhaften Ahnen, mit dem ich damals alles tat, ihm das Bild mit dem Sperber zu schicken, mochte es ihn dann erreichen oder nicht. Ich schrieb nichts darauf, auch nicht meinen Namen, beschnitt die Ränder sorgfältig, kaufte einen großen Papierumschlag und schrieb meines Freundes ehemalige Adresse darauf. Dann schickte ich es fort.
Ein Examen kam näher, und ich mußte mehr als sonst für die Schule arbeiten. Die Lehrer hatten mich wieder zu Gnaden angenommen, seit ich plötzlich meinen schnöden Wandel geändert hatte. Ein guter Schüler war ich auch jetzt wohl nicht, aber weder ich noch sonst jemand dachte noch daran, daß vor einem halben Jahr meine strafweise Entlassung aus der Schule allen wahrscheinlich gewesen war.
Mein Vater schrieb mir jetzt wieder mehr in dem Ton wie früher, ohne Vorwürfe und Drohungen. Doch hatte ich keinen Trieb, ihm oder irgend jemand zu erklären, wie die Wandlung mit mir vor sich gegangen war. Es war ein Zufall, daß diese Wandlung mit den Wünschen meiner Eltern und Lehrer übereinstimmte. Diese Wandlung brachte mich nicht zu den andern, näherte mich niemandem an, machte mich nur einsamer. Sie zielte irgendwohin, zu Demian, zu einem fernen Schicksal. Ich wußte es selber ja nicht, ich stand ja mitten drin. Mit Beatrice hatte es angefangen, aber seit einiger Zeit lebte ich mit meinen gemalten Blättern und meinen Gedanken an Demian in einer so ganz unwirklichen Welt, daß ich auch sie völlig aus den Augen und Gedanken verlor. Niemand hätte ich von meinen Träumen, meinen Erwartungen, meiner inneren Umwandlung ein Wort sagen können, auch nicht, wenn ich gewollt hätte.
Aber wie hätte ich dies wollen können?
Fünftes Kapitel
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei
Mein gemalter Traumvogel war unterwegs und suchte meinen Freund. Auf die wunderlichste Weise kam mir eine Antwort.
In meiner Schulklasse, an meinem Platz, fand ich einst nach der Pause zwischen zwei Lektionen einen Zettel in meinem Buch stecken. Er war genau so gefaltet, wie es bei uns üblich war, wenn Klassengenossen zuweilen während einer Lektion heimlich einander Billetts zukommen ließen. Mich wunderte nur, wer mir solch einen Zettel zuschicke, denn ich stand mit keinem Mitschüler je in solchem Verkehr. Ich dachte, es werde die Aufforderung zu irgendeinem Schülerspaß sein, an dem ich doch nicht teilnehmen würde, und legte den Zettel ungelesen vorn in mein Buch. Erst während der Lektion fiel er mir zufällig wieder in die Hand.
Ich spielte mit dem Papier, entfaltete es gedankenlos und fand einige Worte darein geschrieben. Ich warf einen Blick darauf, blieb an einem Wort hängen, erschrak und las, während mein Herz sich vor Schicksal wie in großer Kälte zusammenzog:
„Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“
Ich versank nach dem mehrmaligen Lesen dieser Zeilen in tiefes Nachsinnen. Es war kein Zweifel möglich, es war Antwort von Demian. Niemand konnte von dem Vogel wissen, als ich und er. Er hatte mein Bild bekommen. Er hatte verstanden und half mir deuten. Aber wie hing alles zusammen? Und — das plagte mich vor allem — was hieß Abraxas? Ich hatte das Wort nie gehört oder gelesen. „Der Gott heißt Abraxas!“
Die Stunde verging, ohne daß ich etwas vom Unterricht hörte. Die nächste begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem ganz jungen Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universität kam und uns schon darum gefiel, weil er so jung war und sich uns gegenüber keine falsche Würde anmaßte.
Wir lasen unter Doktor Follens Führung Herodot. Diese Lektüre gehörte zu den wenigen Schulfächern, die mich interessierten. Aber diesmal war ich nicht dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem Übersetzen nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Übrigens hatte ich schon mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir damals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. Was man stark genug wollte, das gelang. Wenn ich während des Unterrichts sehr stark mit eigenen Gedanken beschäftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in Ruhe ließ. Ja, wenn man zerstreut war oder schläfrig, dann stand er plötzlich da: das war mir auch schon begegnet. Aber wenn man wirklich dachte, wirklich versunken war, dann war man geschützt. Und auch das mit dem festen Anblicken hatte ich schon probiert und bewährt gefunden. Damals zu Demians Zeiten war es mir nicht geglückt, jetzt spürte ich oft, daß man mit Blicken und Gedanken sehr viel ausrichten konnte.
So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg. Aber da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins Bewußtsein, daß ich voll Schreck erwachte. Ich hörte seine Stimme, er stand dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. Aber er sah mich nicht an. Ich atmete auf.
Da hörte ich seine Stimme wieder. Laut sagte sie das Wort: „Abraxas.“
In einer Erklärung, deren Anfang mir entgangen war, fuhr Doktor Follen fort: „Wir müssen uns die Anschauungen jener Sekten und mystischen Vereinigungen des Altertums nicht so naiv vorstellen, wie sie vom Standpunkt einer rationalistischen Betrachtung aus erscheinen. Eine Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum überhaupt nicht. Dafür gab es eine Beschäftigung mit philosophisch-mystischen Wahrheiten, die sehr hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl oft auch zu Betrug und Verbrechen führte. Aber auch die Magie hatte eine edle Herkunft und tiefe Gedanken. So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin als Beispiel anführte. Man nennt diesen Namen in Verbindung mit griechischen Zauberformeln und hält ihn vielfach für den Namen irgendeines Zauberteufels, wie ihn etwa wilde Völker heute noch haben. Es scheint aber, daß Abraxas viel mehr bedeutet. Wir können uns den Namen etwa denken als den einer Gottheit, welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen.“
Der kleine gelehrte Mann sprach fein und eifrig weiter, niemand war sehr aufmerksam, und da der Name nicht mehr vorkam, sank auch meine Aufmerksamkeit bald wieder in mich selbst zurück.
„Das Göttliche und das Teuflische vereinigen,“ klang es mir nach. Hier konnte ich anknüpfen. Das war mir von den Gesprächen mit Demian in der allerletzten Zeit unsrer Freundschaft her vertraut. Demian hatte damals gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar (es war die offizielle, erlaubte, „lichte“ Welt). Man müsse aber die ganze Welt verehren können, also müsse man entweder einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. — Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.
Eine Zeitlang suchte ich mit großem Eifer auf der Spur weiter, ohne doch vorwärts zu kommen. Ich stöberte auch eine ganze Bibliothek erfolglos nach dem Abraxas durch. Doch war mein Wesen niemals stark auf diese Art des direkten und bewußten Suchens eingestellt, wobei man zumeist nur Wahrheiten findet, die einem Steine in der Hand bleiben.
Die Gestalt der Beatrice, mit der ich eine gewisse Zeit hindurch so viel und innig beschäftigt gewesen war, sank nun allmählich unter, oder vielmehr sie trat langsam von mir hinweg, näherte sich mehr und mehr dem Horizont und wurde schattenhafter, ferner, blasser. Sie genügte der Seele nicht mehr.
Es begann jetzt in dem eigentümlich in mich selbst eingesponnenen Dasein, das ich wie ein Traumwandler führte, eine neue Bildung zu entstehen. Die Sehnsucht nach dem Leben blühte in mir, vielmehr die Sehnsucht nach Liebe, und der Trieb des Geschlechts, den ich eine Weile hatte in die Anbetung Beatrices auflösen können, verlangte neue Bilder und Ziele. Noch immer kam keine Erfüllung mir entgegen, und unmöglicher als je war es mir, die Sehnsucht zu täuschen und etwas von den Mädchen zu erwarten, bei denen meine Kameraden ihr Glück suchten. Ich träumte wieder heftig, und zwar mehr am Tage als in der Nacht. Vorstellungen, Bilder oder Wünsche, stiegen in mir auf und zogen mich von der äußeren Welt hinweg, so daß ich mit diesen Bildern in mir, mit diesen Träumen oder Schatten, wirklicher und lebhafter Umgang hatte und lebte, als mit meiner wirklichen Umgebung.
Ein bestimmter Traum, oder ein Phantasiespiel, das immer wiederkehrte, wurde mir bedeutungsvoll. Dieser Traum, der wichtigste und nachhaltigste meines Lebens, war etwa so: Ich kehrte in mein Vaterhaus zurück — über dem Haustor leuchtete der Wappenvogel in Gelb auf blauem Grund — im Hause kam mir meine Mutter entgegen — aber als ich eintrat und sie umarmen wollte, war es nicht sie, sondern eine nie gesehene Gestalt, groß und mächtig, dem Max Demian und meinem gemalten Blatte ähnlich, doch anders, und trotz der Mächtigkeit ganz und gar weiblich. Diese Gestalt zog mich an sich und nahm mich in eine tiefe, schauernde Liebesumarmung auf. Wonne und Grausen waren vermischt, die Umarmung war Gottesdienst, und war ebenso Verbrechen. Zu viel Erinnerung an meine Mutter, zu viel Erinnerung an meinen Freund Demian geistete in der Gestalt, die mich umfing. Ihre Umarmung verstieß gegen jede Ehrfurcht und war doch Seligkeit. Oft erwachte ich aus diesem Traume mit tiefem Glücksgefühl, oft mit Todesangst und gequältestem Gewissen wie aus furchtbarer Sünde.
Nur allmählich und unbewußt kam zwischen diesem ganz innerlichen Bilde und dem mir von außen zugekommenen Wink über den zu suchenden Gott eine Verbindung zustande. Sie wurde aber dann enger und inniger, und ich begann zu spüren, daß ich gerade in diesem Ahnungstraum den Abraxas anrief. Wonne und Grauen, Mann und Weib gemischt, Heiligstes und Gräßliches ineinander verflochten, tiefe Schuld durch zarteste Unschuld zuckend — so war mein Liebestraumbild, und so war auch Abraxas. Liebe war nicht mehr tierisch dunkler Trieb, wie ich sie beängstigt im Anfang empfunden hatte, und sie war auch nicht mehr fromm vergeistigte Anbeterschaft, wie ich sie dem Bilde der Beatrice dargebracht. Sie war beides, beides und noch viel mehr, sie war Engelsbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, höchstes Gut und äußerstes Böses. Dies zu leben schien mir bestimmt, dies zu kosten mein Schicksal. Ich hatte Sehnsucht nach ihm und hatte Angst vor ihm, ich träumte ihm nach und ich floh vor ihm, aber es war immer da, war immer über mir.
Im nächsten Frühjahr sollte ich das Gymnasium verlassen und studieren gehen, ich wußte noch nicht wo und was. Auf meinen Lippen wuchs ein kleiner Bart, ich war ein ausgewachsener Mensch, und doch vollkommen hilflos und ohne Ziele. Fest war nur eines: die Stimme in mir, das Traumbild. Ich fühlte die Aufgabe, dieser Führung blind zu folgen. Aber es fiel mir schwer, und täglich lehnte ich mich auf. Vielleicht war ich verrückt, dachte ich nicht selten, vielleicht war ich nicht wie andere Menschen? Aber ich konnte das, was andre leisteten, alles auch tun, mit ein wenig Fleiß und Bemühung konnte ich Plato lesen, konnte trigonometrische Aufgaben lösen oder einer chemischen Analyse folgen. Nur eines konnte ich nicht: das in mir dunkel verborgene Ziel herausreißen und irgendwo vor mich hinmalen, wie andere es taten, welche genau wußten, daß sie Professor oder Richter, Arzt oder Künstler werden wollten, wie lang das dauern und was für Vorteile es haben würde. Das konnte ich nicht. Vielleicht wurde ich auch einmal so etwas, aber wie sollte ich das wissen. Vielleicht mußte ich auch suchen und weitersuchen, jahrelang, und wurde nichts, und kam an kein Ziel. Vielleicht kam ich auch an ein Ziel, aber es war ein böses, gefährliches, furchtbares.
Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?
Oft machte ich den Versuch, die mächtige Liebesgestalt meines Traumes zu malen. Es gelang aber nie. Wäre es mir gelungen, so hätte ich das Blatt an Demian gesandt. Wo war er? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, er war mit mir verbunden. Wann würde ich ihn wiedersehen?
Die freundliche Ruhe jener Wochen und Monate der Beatricezeit war lang vergangen. Damals hatte ich gemeint, eine Insel erreicht und einen Frieden gefunden zu haben. Aber so war es immer — kaum war ein Zustand mir lieb geworden, kaum hatte ein Traum mir wohlgetan, so wurde er auch schon welk und blind. Vergebens, ihm nachzuklagen! Ich lebte jetzt in einem Feuer von ungestilltem Verlangen, von gespanntem Erwarten, das mich oft völlig wild und toll machte. Das Bild der Traumgeliebten sah ich oft mit überlebendiger Deutlichkeit vor mir, viel deutlicher als meine eigene Hand, sprach mit ihm, weinte vor ihm, fluchte ihm. Ich nannte es Mutter und kniete vor ihm in Tränen, ich nannte es Geliebte und ahnte seinen reifen, alles erfüllenden Kuß, ich nannte es Teufel und Hure, Vampyr und Mörder. Es verlockte mich zu zartesten Liebesträumen und zu wüsten Schamlosigkeiten, nichts war ihm zu gut und köstlich, nichts zu schlecht und niedrig.
Jenen ganzen Winter verlebte ich in einem inneren Sturm, den ich schwer beschreiben kann. An die Einsamkeit war ich lang gewöhnt, sie drückte mich nicht, ich lebte mit Demian, mit dem Sperber, mit dem Bild der großen Traumgestalt, die mein Schicksal und meine Geliebte war. Das war genug, um darin zu leben, denn alles blickte ins Große und Weite, und alles deutete auf Abraxas. Aber keiner dieser Träume, keiner meiner Gedanken gehorchte mir, keinen konnte ich rufen, keinem konnte ich nach Belieben seine Farben geben. Sie kamen und nahmen mich, ich wurde von ihnen regiert, wurde von ihnen gelebt.
Wohl war ich nach außen gesichert. Vor Menschen hatte ich keine Furcht, das hatten auch meine Mitschüler gelernt und brachten mir eine heimliche Achtung entgegen, die mich oft lächeln machte. Wenn ich wollte, konnte ich die meisten von ihnen sehr gut durchschauen und sie gelegentlich dadurch in Erstaunen setzen. Nur wollte ich selten oder nie. Ich war immer mit mir beschäftigt, immer mit mir selbst. Und ich verlangte sehnlichst danach, nun endlich auch einmal ein Stück zu leben, etwas aus mir hinaus in die Welt zu geben, in Beziehung und Kampf mit ihr zu treten. Manchmal wenn ich am Abend durch die Straßen lief und vor Unrast bis Mitternacht nicht heimkehren konnte, manchmal meinte ich dann, jetzt und jetzt müsse meine Geliebte mir begegnen, an der nächsten Ecke vorübergehen, mir aus dem nächsten Fenster rufen. Manchmal auch schien mir dies alles unerträglich qualvoll, und ich war darauf gefaßt, mir einmal das Leben zu nehmen.
Eine eigentümliche Zuflucht fand ich damals — durch einen „Zufall“, wie man sagt. Es gibt aber solche Zufälle nicht. Wenn der, der etwas notwendig braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin.
Ich hatte zwei oder drei Male auf meinen Gängen durch die Stadt aus einer kleineren Vorstadtkirche Orgelspiel vernommen, ohne dabei zu verweilen. Als ich das nächstemal vorüberkam, hörte ich es wieder, und erkannte, daß Bach gespielt wurde. Ich ging zum Tor, das ich geschlossen fand, und da die Gasse fast ohne Menschen war, setzte ich mich neben der Kirche auf einen Prellstein, schlug den Mantelkragen um mich und hörte zu. Es war keine große, doch eine gute Orgel, und es wurde wunderlich gespielt, nämlich gut und beinahe virtuos, aber mit einem eigentümlichen, höchst persönlichen Ausdruck von Willen und Beharrlichkeit, der wie ein Gebet klang. Ich hatte das Gefühl: der Mann, der da spielt, weiß in dieser Musik einen Schatz verschlossen, und er wirbt und pocht und müht sich um diesen Schatz wie um sein Leben. Ich verstehe, im Sinn der Technik, nicht sehr viel von Musik, aber ich habe gerade diesen Ausdruck der Seele von Kind auf instinktiv verstanden und das Musikalische als etwas Selbstverständliches in mir gefühlt.
Der Musiker spielte darauf auch etwas Modernes, es konnte von Reger sein. Die Kirche war fast völlig dunkel, nur ein ganz dünner Lichtschein drang durchs nächste Fenster. Ich wartete, bis die Musik zu Ende war, und strich dann auf und ab, bis ich den Organisten herauskommen sah. Es war ein noch junger Mensch, doch älter als ich, vierschrötig und untersetzt von Gestalt, und er lief rasch mit kräftigen und gleichsam unwilligen Schritten davon.
Manchmal saß ich von da an in der Abendstunde vor der Kirche, oder ging auf und ab. Einmal fand ich auch das Tor offen und saß eine halbe Stunde fröstelnd und glücklich im Gestühl, während der Organist oben bei spärlichem Gaslicht spielte. Aus der Musik, die er spielte, hörte ich nicht nur ihn selbst. Es schien mir auch alles, was er spielte, unter sich verwandt zu sein, einen geheimen Zusammenhang zu haben. Alles, was er spielte, war gläubig, war hingegeben und fromm, aber nicht fromm wie die Kirchengänger und Pastoren, sondern fromm wie Pilger und Bettler im Mittelalter, fromm mit rücksichtsloser Hingabe an ein Weltgefühl, das über allen Bekenntnissen stand. Die Meister vor Bach wurden fleißig gespielt, und alte Italiener. Und alle sagten dasselbe, alle sagten das, was auch der Musikant in der Seele hatte: Sehnsucht, innigstes Ergreifen der Welt und wildestes Sichwiederscheiden von ihr, brennendes Lauschen auf die eigene dunkle Seele, Rausch der Hingabe und tiefe Neugierde auf das Wunderbare.
Als ich einmal den Orgelspieler nach seinem Weggang aus der Kirche heimlich verfolgte, sah ich ihn weit draußen am Rande der Stadt in eine kleine Schenke treten. Ich konnte nicht widerstehen und ging ihm nach. Zum erstenmal sah ich ihn hier deutlich. Er saß am Wirtstisch in einer Ecke der kleinen Stube, den schwarzen Filzhut auf dem Kopf, einen Schoppen Wein vor sich, und sein Gesicht war so, wie ich es erwartet hatte. Es war häßlich und etwas wild, suchend und verbohrt, eigensinnig und willensvoll, dabei um den Mund weich und kindlich. Das Männliche und Starke saß alles in Augen und Stirn, der untere Teil des Gesichtes war zart und unfertig, unbeherrscht und zum Teil weichlich, das Kinn voll Unentschlossenheit stand knabenhaft da wie ein Widerspruch gegen Stirn und Blick. Lieb waren mir die dunkelbraunen Augen, voll Stolz und Feindlichkeit.
Schweigend setzte ich mich ihm gegenüber, niemand war sonst in der Kneipe. Er blitzte mich an, als wolle er mich wegjagen. Ich hielt jedoch stand und sah ihn unentwegt an, bis er unwirsch brummte: „Was schauen Sie denn so verflucht scharf? Wollen Sie was von mir?“
„Ich will nichts von Ihnen,“ sagte ich. „Aber ich habe schon viel von Ihnen gehabt.“
Er zog die Stirn zusammen.
„So, sind Sie ein Musikschwärmer? Ich finde es ekelhaft, für Musik zu schwärmen.“
Ich ließ mich nicht abschrecken.
„Ich habe Ihnen schon oft zugehört, in der Kirche da draußen,“ sagte ich. „Ich will Sie übrigens nicht belästigen. Ich dachte, ich würde bei Ihnen vielleicht etwas finden, etwas Besonderes, ich weiß nicht recht was. Aber hören Sie lieber gar nicht auf mich! Ich kann Ihnen ja in der Kirche zuhören.“
„Ich schließe doch immer ab.“
„Neulich haben Sie es vergessen, und ich saß drinnen. Sonst stehe ich draußen oder sitze auf dem Prellstein.“
„So? Sie können ein andermal hereinkommen, es ist wärmer. Sie müssen dann bloß an die Tür klopfen. Aber kräftig, und nicht während ich spiele. Jetzt los — was wollten Sie sagen? Sie sind ein ganz junger Mann, wahrscheinlich ein Schüler oder Student. Sind Sie Musiker?“
„Nein. Ich höre gern Musik, aber bloß solche, wie Sie sie spielen, ganz unbedingte Musik, solche, bei der man spürt, daß da ein Mensch an Himmel und Hölle rüttelt. Die Musik ist mir sehr lieb, ich glaube, weil sie so wenig moralisch ist. Alles andere ist moralisch, und ich suche etwas, was nicht so ist. Ich habe unter dem Moralischen immer bloß gelitten. Ich kann mich nicht gut ausdrücken. — Wissen Sie, daß es einen Gott geben muß, der zugleich Gott und Teufel ist? Es soll einen gegeben haben, ich hörte davon.“
Der Musiker schob den breiten Hut etwas zurück und schüttelte sich das dunkle Haar von der großen Stirn. Dabei sah er mich durchdringend an und neigte mir sein Gesicht über den Tisch entgegen.
Leise und gespannt fragte er: „Wie heißt der Gott, von dem Sie da sagen?“
„Ich weiß leider fast nichts von ihm, eigentlich bloß den Namen. Er heißt Abraxas.“
Der Musikant blickte wie mißtrauisch um sich, als könnte uns jemand belauschen. Dann rückte er nahe zu mir und sagte flüsternd: „Ich habe es mir gedacht. Wer sind Sie?“
„Ich bin ein Schüler vom Gymnasium.“
„Woher wissen Sie von Abraxas?“
„Durch Zufall.“
Er hieb auf den Tisch, daß sein Weinglas überlief.
„Zufall! Reden Sie keinen Sch . . . dreck, junger Mensch! Von Abraxas weiß man nicht durch Zufall, das merken Sie sich. Ich werde Ihnen noch mehr von ihm sagen. Ich weiß ein wenig von ihm.“
Er schwieg und rückte seinen Stuhl zurück. Als ich ihn voll Erwartung ansah, schnitt er eine Grimasse.
„Nicht hier! Ein andermal. — Da, nehmen Sie!“
Dabei griff er in die Tasche seines Mantels, den er nicht abgelegt hatte, und zog ein paar gebratene Kastanien heraus, die er mir hinwarf.
Ich sagte nichts, nahm sie und aß und war sehr zufrieden.
„Also!“ flüsterte er nach einer Weile. „Woher wissen Sie von — Ihm?“
Ich zögerte nicht, es ihm zu sagen.
„Ich war allein und ratlos,“ erzählte ich. „Da fiel mir ein Freund aus früheren Jahren ein, von dem ich glaube, daß er sehr viel weiß. Ich hatte etwas gemalt, einen Vogel, der aus einer Weltkugel herauskam. Den schickte ich ihm. Nach einiger Zeit, als ich nicht mehr recht daran glaubte, bekam ich ein Stück Papier in die Hand, darauf stand: Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“
Er erwiderte nichts, wir schälten unsere Kastanien und aßen sie zum Wein.
„Nehmen wir noch einen Schoppen?“ fragte er.
„Danke, nein. Ich trinke nicht gern.“
Er lachte, etwas enttäuscht.
„Wie Sie wollen! Bei mir ist es anders. Ich bleibe noch hier. Gehen Sie jetzt nur!“
Als ich dann das nächstemal nach der Orgelmusik mit ihm ging, war er nicht sehr mitteilsam. Er führte mich in einer alten Gasse durch ein altes, stattliches Haus empor und in ein großes, etwas düsteres und verwahrlostes Zimmer, wo außer einem Klavier nichts auf Musik deutete, während ein großer Bücherschrank und Schreibtisch dem Raum etwas Gelehrtenhaftes gaben.
„Wieviel Bücher Sie haben!“ sagte ich anerkennend.
„Ein Teil davon ist aus der Bibliothek meines Vaters, bei dem ich wohne. — Ja, junger Mann, ich wohne bei Vater und Mutter, aber ich kann Sie ihnen nicht vorstellen, mein Umgang genießt hier im Hause keiner großen Achtung. Ich bin ein verlorener Sohn, wissen Sie. Mein Vater ist ein fabelhaft ehrenwerter Mann, ein bedeutender Pfarrer und Prediger in hiesiger Stadt. Und ich, damit Sie gleich Bescheid wissen, bin sein begabter und vielversprechender Herr Sohn, der aber entgleist und einigermaßen verrückt geworden ist. Ich war Theologe und habe kurz vor dem Staatsexamen diese biedere Fakultät verlassen. Obgleich ich eigentlich noch immer beim Fach bin, was meine Privatstudien betrifft. Was für Götter die Leute sich jeweils ausgedacht haben, das ist mir noch immer höchst wichtig und interessant. Im übrigen bin ich jetzt Musiker und werde, wie es scheint, bald eine kleinere Organistenstelle bekommen. Dann bin ich ja auch wieder bei der Kirche.“
Ich schaute an den Bücherrücken entlang, fand griechische, lateinische, hebräische Titel, soweit ich beim schwachen Licht der kleinen Tischlampe sehen konnte. Inzwischen hatte sich mein Bekannter im Finstern bei der Wand auf den Boden gelegt und machte sich dort zu schaffen.
„Kommen Sie,“ rief er nach einer Weile, „wir wollen jetzt ein wenig Philosophie üben, das heißt das Maul halten, auf dem Bauche liegen und denken.“
Er strich ein Zündholz an und setzte in dem Kamin, vor dem er lag, Papier und Scheite in Brand. Die Flamme stieg hoch, er schürte und speiste das Feuer mit ausgesuchter Umsicht. Ich legte mich zu ihm auf den zerschlissenen Teppich. Er starrte ins Feuer, das auch mich anzog, und wir lagen schweigend wohl eine Stunde lang auf dem Bauch vor dem flackernden Holzfeuer, sahen es flammen und brausen, einsinken und sich krümmen, verflackern und zucken und endlich in stiller, versunkener Glut am Boden brüten.
„Das Feueranbeten war nicht das Dümmste, was erfunden worden ist,“ murmelte er einmal vor sich hin. Sonst sagte keiner von uns ein Wort. Mit starren Augen hing ich an dem Feuer, versank in Traum und Stille, sah Gestalten im Rauch und Bilder in der Asche. Einmal schrak ich auf. Mein Genosse warf ein Stückchen Harz in die Glut, eine kleine, schlanke Flamme schoß empor, ich sah in ihr den Vogel mit dem gelben Sperberkopf. In der hinsterbenden Kaminglut liefen goldig glühende Fäden zu Netzen zusammen, Buchstaben und Bilder erschienen, Erinnerungen an Gesichter, an Tiere, an Pflanzen, an Würmer und Schlangen. Als ich, erwachend, nach dem andern sah, stierte er, das Kinn auf den Fäusten, hingegeben und fanatisch in die Asche.
„Ich muß jetzt gehen,“ sagte ich leise.
„Ja, dann gehen Sie. Auf Wiedersehen!“
Er stand nicht auf, und da die Lampe gelöscht war, mußte ich mich mit Mühe durchs finstere Zimmer und die finsteren Gänge und Treppen aus dem verwunschenen alten Hause tasten. Auf der Straße machte ich halt und sah an dem alten Hause hinauf. In keinem Fenster brannte Licht. Ein kleines Schild aus Messing glänzte im Schein der Gaslaterne vor der Tür.
„Pistorius, Hauptpfarrer,“ las ich darauf.
Erst zu Hause, als ich nach dem Abendessen allein in meinem kleinen Zimmer saß, fiel mir ein, daß ich weder über Abraxas noch sonst etwas von Pistorius erfahren habe, daß wir überhaupt kaum zehn Worte gewechselt hatten. Aber ich war mit meinem Besuch bei ihm sehr zufrieden. Und für das nächstemal hatte er mir ein ganz exquisites Stück alter Orgelmusik versprochen, eine Passacaglia von Buxtehude.
Ohne daß ich es wußte, hatte der Organist Pistorius mir eine erste Lektion gegeben, als ich mit ihm vor dem Kamin auf dem Boden seines trüben Einsiedlerzimmers lag. Das Schauen ins Feuer hatte mir gut getan, es hatte Neigungen in mir gekräftigt und bestätigt, die ich immer gehabt, doch nie eigentlich gepflegt hatte. Allmählich wurde ich teilweise darüber klar.
Schon als kleines Kind hatte ich je und je den Hang gehabt, bizarre Formen der Natur anzuschauen, nicht beobachtend, sondern ihrem eigenen Zauber, ihrer krausen, tiefen Sprache hingegeben. Lange verholzte Baumwurzeln, farbige Adern im Gestein, Flecken von Öl, das auf Wasser schwimmt, Sprünge in Glas — alle ähnlichen Dinge hatten zu Zeiten großen Zauber für mich gehabt, vor allem auch das Wasser und das Feuer, der Rauch, die Wolken, der Staub, und ganz besonders die kreisenden Farbflecke, die ich sah, wenn ich die Augen schloß. In den Tagen nach meinem ersten Besuch bei Pistorius begann dies mir wieder einzufallen. Denn ich merkte, daß ich eine gewisse Stärkung und Freude, eine Steigerung meines Gefühls von mir selbst, die ich seither spürte, lediglich dem langen Starren ins offene Feuer verdankte. Es war merkwürdig wohltuend und bereichernd, das zu tun!
An die wenigen Erfahrungen, welche ich bis jetzt auf dem Wege zu meinem eigentlichen Lebensziel gefunden hatte, reihte sich diese neue: das Betrachten solcher Gebilde, das Sichhingeben an irrationale, krause, seltsame Formen der Natur erzeugt in uns ein Gefühl von der Übereinstimmung unseres Innern mit dem Willen, der diese Gebilde werden ließ — wir spüren bald die Versuchung, sie für unsere eigenen Launen, für unsere eigenen Schöpfungen zu halten — wir sehen die Grenzen zwischen uns und der Natur zittern und zerfließen und lernen die Stimmung kennen, in der wir nicht wissen, ob die Bilder auf unserer Netzhaut von äußeren Eindrücken stammen oder von inneren. Nirgends so einfach und leicht wie bei dieser Übung machen wir die Entdeckung, wie sehr wir Schöpfer sind, wie sehr unsere Seele immerzu teilhat an der beständigen Erschaffung der Welt. Vielmehr ist es dieselbe unteilbare Gottheit, die in uns und die in der Natur tätig ist, und wenn die äußere Welt unterginge, so wäre einer von uns fähig, sie wieder aufzubauen, denn Berg und Strom, Baum und Blatt, Wurzel und Blüte, alles Gebildete in der Natur liegt in uns vorgebildet, stammt aus der Seele, deren Wesen Ewigkeit ist, deren Wesen wir nicht kennen, das sich uns aber zumeist als Liebeskraft und Schöpferkraft zu fühlen gibt.
Erst manche Jahre später fand ich einmal diese Beobachtung in einem Buche bestätigt, nämlich bei Leonardo da Vinci, der einmal davon redet, wie gut und tief anregend es sei, eine Mauer anzusehen, welche von vielen Leuten angespien worden ist. Vor jenen Flecken an der feuchten Mauer fühlte er dasselbe wie Pistorius und ich vor dem Feuer.
Bei unserem nächsten Zusammensein gab mir der Orgelspieler eine Erklärung.
„Wir ziehen die Grenzen unserer Persönlichkeit immer viel zu eng! Wir rechnen zu unserer Person immer bloß das, was wir als individuell unterschieden, als abweichend erkennen. Wir bestehen aber aus dem ganzen Bestand der Welt, jeder von uns, und ebenso wie unser Körper die Stammtafeln der Entwicklung bis zum Fisch und noch viel weiter zurück in sich trägt, so haben wir in der Seele alles, was je in Menschenseelen gelebt hat. Alle Götter und Teufel, die je gewesen sind, sei es bei Griechen und Chinesen oder bei Zulukaffern, alle sind mit in uns, sind da, als Möglichkeiten, als Wünsche, als Auswege. Wenn die Menschheit ausstürbe bis auf ein einziges halbwegs begabtes Kind, das keinerlei Unterricht genossen hat, so würde dieses Kind den ganzen Gang der Dinge wiederfinden, es würde Götter, Dämonen, Paradiese, Gebote und Verbote, Alte und Neue Testamente, alles würde es wieder produzieren können.“
„Ja, gut,“ wandte ich ein, „aber worin besteht dann noch der Wert des einzelnen? Warum streben wir noch, wenn wir doch alles in uns schon fertig haben?“
„Halt!“ rief Pistorius heftig. „Es ist ein großer Unterschied, ob Sie bloß die Welt in sich tragen, oder ob Sie das auch wissen! Ein Wahnsinniger kann Gedanken hervorbringen, die an Plato erinnern, und ein kleiner frommer Schulknabe in einem Herrnhuter Institut denkt tiefe mythologische Zusammenhänge schöpferisch nach, die bei den Gnostikern oder bei Zoroaster vorkommen. Aber er weiß nichts davon! Er ist ein Baum oder Stein, bestenfalls ein Tier, solange er es nicht weiß. Dann aber, wenn der erste Funke dieser Erkenntnis dämmert, dann wird er Mensch. Sie werden doch wohl nicht alle die Zweibeiner, die da auf der Straße laufen, für Menschen halten, bloß weil sie aufrecht gehen und ihre Jungen neun Monate tragen? Sie sehen doch, wie viele von ihnen Fische oder Schafe, Würmer oder Egel sind, wie viele Ameisen, wie viele Bienen! Nun, in jedem von ihnen sind die Möglichkeiten zum Menschen da, aber erst, indem er sie ahnt, indem er sie teilweise sogar bewußt machen lernt, gehören diese Möglichkeiten ihm.“
Etwa dieser Art waren unsere Gespräche. Selten brachten sie mir etwas völlig Neues, etwas ganz und gar Überraschendes. Alle aber, auch das banalste, trafen mit leisem stetigen Hammerschlag auf denselben Punkt in mir, alle halfen an mir bilden, alle halfen Häute von mir abstreifen, Eierschalen zerbrechen, und aus jedem hob ich den Kopf etwas höher, etwas freier, bis mein gelber Vogel seinen schönen Raubvogelkopf aus der zertrümmerten Weltschale stieß.
Häufig erzählten wir auch einander unsere Träume. Pistorius verstand ihnen eine Deutung zu geben. Ein wunderliches Beispiel ist mir eben erinnerlich. Ich hatte einen Traum, in dem ich fliegen konnte, jedoch so, daß ich gewissermaßen von einem großen Schwung durch die Luft geschleudert wurde, dessen ich nicht Herr war. Das Gefühl dieses Fluges war erhebend, ward aber bald zur Angst, als ich mich willenlos in bedenkliche Höhen gerissen sah. Da machte ich die erlösende Entdeckung, daß ich mein Steigen und Fallen durch Anhalten und Strömenlassen des Atems regeln konnte.
Dazu sagte Pistorius: „Der Schwung, der Sie fliegen macht, das ist unser großer Menschheitsbesitz, den jeder hat. Es ist das Gefühl des Zusammenhangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald bange! Es ist verflucht gefährlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen und ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem Bürgersteige zu wandeln. Aber Sie nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich für einen tüchtigen Burschen gehört. Und siehe, da entdecken Sie das Wunderliche, daß Sie allmählich Herr darüber werden, daß zu der großen allgemeinen Kraft, die Sie fortreißt, eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist famos. Ohne das ginge man willenlos in die Lüfte, das tun zum Beispiel die Wahnsinnigen. Ihnen sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem Bürgersteig, aber sie haben keinen Schlüssel und kein Steuer dazu, und sausen ins Bodenlose. Sie aber, Sinclair, Sie machen die Sache! Und wie, bitte. Das wissen Sie wohl noch gar nicht? Sie machen es mit einem neuen Organ, mit einem Atemregulator. Und nun können Sie sehen, wie wenig ‚persönlich‘ Ihre Seele in ihrer Tiefe ist. Sie erfindet nämlich diesen Regulator nicht! Er ist nicht neu! Er ist eine Anleihe, er existiert seit Jahrtausenden. Er ist das Gleichgewichtsorgan der Fische, die Schwimmblase. Und tatsächlich gibt es ein paar wenige seltsame und konservative Fischarten noch heute, bei denen die Schwimmblase zugleich eine Art Lunge ist und unter Umständen richtig zum Atmen dienen kann. Also haargenau wie die Lunge, die Sie im Traum als Fliegerblase benutzen!“
Er brachte mir sogar einen Band Zoologie und zeigte mir Namen und Abbildungen jener altmodischen Fische. Und ich fühlte in mir, mit einem eigentümlichen Schauer, eine Funktion aus frühen Entwicklungsepochen lebendig.
Sechstes Kapitel
Jakobs Kampf
Was ich von dem sonderbaren Musiker Pistorius über Abraxas erfuhr, kann ich nicht in Kürze wiedererzählen. Das Wichtigste aber, was ich bei ihm lernte, war ein weiterer Schritt auf dem Wege zu mir selbst. Ich war damals, mit meinen etwa achtzehn Jahren, ein ungewöhnlicher junger Mensch, in hundert Dingen frühreif, in hundert andern Dingen sehr zurück und hilflos. Wenn ich mich je und je mit anderen verglich, war ich oft stolz und eingebildet gewesen, ebenso oft aber niedergedrückt und gedemütigt. Oft hatte ich mich für ein Genie angesehen, oft für halb verrückt. Es gelang mir nicht, Freuden und Leben der Altersgenossen mitzumachen, und oft hatte ich mich in Vorwürfen und Sorgen verzehrt, als sei ich hoffnungslos von ihnen getrennt, als sei mir das Leben verschlossen.
Pistorius, welcher selbst ein ausgewachsener Sonderling war, lehrte mich den Mut und die Achtung vor mir selbst bewahren. Indem er in meinen Worten, in meinen Träumen, in meinen Phantasien und Gedanken stets Wertvolles fand, sie stets ernst nahm und ernsthaft besprach, gab er mir das Beispiel.
„Sie haben mir erzählt,“ sagte er, „daß Sie die Musik darum lieben, weil sie nicht moralisch sei. Meinetwegen. Aber Sie selber müssen eben auch kein Moralist sein! Sie dürfen sich nicht mit andern vergleichen, und wenn die Natur Sie zur Fledermaus geschaffen hat, dürfen Sie sich nicht zum Vogel Strauß machen wollen. Sie halten sich manchmal für sonderbar, Sie werfen sich vor, daß Sie andere Wege gehen als die meisten. Das müssen Sie verlernen. Blicken Sie ins Feuer, blicken Sie in die Wolken, und sobald die Ahnungen kommen und die Stimmen in Ihrer Seele anfangen zu sprechen, dann überlassen Sie sich ihnen und fragen Sie ja nicht erst, ob das wohl auch dem Herrn Lehrer oder dem Herrn Papa oder irgendeinem lieben Gott passe oder lieb sei! Damit verdirbt man sich. Damit kommt man auf den Bürgersteig und wird ein Fossil. Lieber Sinclair, unser Gott heißt Abraxas, und er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich. Abraxas hat gegen keinen Ihrer Gedanken, gegen keinen Ihrer Träume etwas einzuwenden. Vergessen Sie das nie. Aber er verläßt Sie, wenn Sie einmal tadellos und normal geworden sind. Dann verläßt er Sie und sucht sich einen neuen Topf, um seine Gedanken drin zu kochen.“
Unter allen meinen Träumen war jener dunkle Liebestraum der treueste. Oft, oft habe ich ihn geträumt, trat unterm Wappenvogel weg in unser altes Haus, wollte die Mutter an mich ziehen, und hielt statt ihrer das große halb männliche, halb mütterliche Weib umfaßt, vor der ich Furcht hatte und zu der mich doch das glühendste Verlangen zog. Und diesen Traum konnte ich meinem Freunde nie erzählen. Ihn behielt ich zurück, wenn ich ihm alles andre erschlossen hatte. Er war mein Winkel, mein Geheimnis, meine Zuflucht.
Wenn ich bedrückt war, dann bat ich Pistorius, er möge mir die Passacaglia des alten Buxtehude spielen. In der abendlichen dunklen Kirche saß ich dann verloren an diese seltsame, innige, in sich selbst versenkte, sich selber belauschende Musik, die mir jedesmal wohl tat und mich bereiter machte, den Stimmen der Seele recht zu geben.
Zuweilen blieben wir auch eine Weile, nachdem die Orgel schon verklungen war, in der Kirche sitzen und sahen das schwache Licht durch die hohen spitzbogigen Fenster scheinen und sich verlieren.
„Es klingt komisch,“ sagte Pistorius, „daß ich einmal Theologe war und beinah Pfarrer geworden wäre. Aber es war nur ein Irrtum in der Form, den ich dabei beging. Priester sein, ist mein Beruf und mein Ziel. Nur war ich zu früh zufrieden und stellte mich dem Jehova zur Verfügung, noch ehe ich den Abraxas kannte. Ach, jede Religion ist schön. Religion ist Seele, einerlei, ob man ein christliches Abendmahl nimmt oder ob man nach Mekka wallfahrt.“
„Dann hätten Sie,“ meinte ich, „aber eigentlich doch Pfarrer werden können.“
„Nein, Sinclair, nein. Ich hätte ja lügen müssen. Unsre Religion wird so ausgeübt, als sei sie keine. Sie tut so, als sei sie ein Verstandeswerk. Katholik könnte ich zur Not wohl sein, aber protestantischer Priester — nein! Die paar wirklich Gläubigen — ich kenne solche — halten sich gern an das Wörtliche, ihnen könnte ich nicht sagen, daß etwa Christus für mich keine Person, sondern ein Heros, ein Mythos ist, ein ungeheures Schattenbild, in dem die Menschheit sich selber an die Wand der Ewigkeit gemalt sieht. Und die anderen, die in die Kirche kommen, um ein kluges Wort zu hören, um eine Pflicht zu erfüllen, um nichts zu versäumen und so weiter, ja was hätte ich denen sagen sollen? Sie bekehren, meinst du? Aber das will ich gar nicht. Der Priester will nicht bekehren, er will nur unter Gläubigen, unter seinesgleichen leben, und will Träger und Ausdruck sein für das Gefühl, aus dem wir unsere Götter machen.“
Er unterbrach sich. Dann fuhr er fort: „Unser neuer Glaube, für den wir jetzt den Namen des Abraxas wählen, ist schön, lieber Freund. Er ist das Beste, was wir haben. Aber er ist noch ein Säugling! Die Flügel sind ihm noch nicht gewachsen. Ach, eine einsame Religion, das ist noch nicht das Wahre. Sie muß gemeinsam werden, sie muß Kult und Rausch, Feste und Mysterien haben . . .“
Er sann und versank in sich.
„Kann man Mysterien nicht auch allein, oder im kleinsten Kreis, begehen?“ fragte ich zögernd.
„Man kann schon,“ nickte er. „Ich begehe sie schon lang. Ich habe Kulte begangen, für die ich Jahre von Zuchthaus absitzen müßte, wenn man davon wüßte. Aber ich weiß, es ist noch nicht das Richtige.“
Plötzlich schlug er mir auf die Schulter, daß ich zusammenzuckte. „Junge,“ sagte er eindringlich, „auch Sie haben Mysterien. Ich weiß, daß Sie Träume haben müssen, die Sie mir nicht sagen. Ich will sie nicht wissen. Aber ich sage Ihnen: Leben Sie sie, diese Träume, spielen Sie sie, bauen Sie ihnen Altäre! Es ist noch nicht das Vollkommene, aber es ist ein Weg. Ob wir einmal, Sie und ich und ein paar andere, die Welt erneuern werden, das wird sich zeigen. In uns drinnen aber müssen wir sie jeden Tag erneuern, sonst ist es nichts mit uns. Denken Sie dran! Sie sind achtzehn Jahr alt, Sinclair, Sie laufen nicht zu den Straßendirnen, Sie müssen Liebesträume, Liebeswünsche haben. Vielleicht sind sie so, daß Sie sich vor ihnen fürchten. Fürchten Sie sich nicht! Sie sind das Beste, was Sie haben! Sie können mir glauben. Ich habe damit viel verloren, daß ich in Ihren Jahren meine Liebesträume vergewaltigt habe. Man muß das nicht tun. Wenn man von Abraxas weiß, darf man es nicht mehr tun. Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht.“
Erschreckt wandte ich ein: „Aber man kann doch nicht alles tun, was einem einfällt! Man darf doch auch nicht einen Menschen umbringen, weil er einem zuwider ist.“
Er rückte näher zu mir.
„Unter Umständen darf man auch das. Es ist nur meistens ein Irrtum. Ich meine auch nicht, Sie sollen einfach alles das tun, was Ihnen durch den Sinn geht. Nein, aber Sie sollen diese Einfälle, die ihren guten Sinn haben, nicht dadurch schädlich machen, daß Sie sie vertreiben und an ihnen herummoralisieren. Statt sich oder einen andern ans Kreuz zu schlagen, kann man aus einem Kelch mit feierlichen Gedanken Wein trinken und dabei das Mysterium des Opfers denken. Man kann, auch ohne solche Handlungen, seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Achtung und Liebe behandeln. Dann zeigen sie ihren Sinn, und sie haben alle Sinn. — Wenn Ihnen wieder einmal etwas recht Tolles oder Sündhaftes einfällt, Sinclair, wenn Sie jemand umbringen oder irgendeine gigantische Unflätigkeit begehen möchten, dann denken Sie einen Augenblick daran, daß es Abraxas ist, der so in Ihnen phantasiert! Der Mensch, den Sie töten möchten, ist ja nie der Herr Soundso, er ist sicher nur eine Verkleidung. Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“
Nie hatte mir Pistorius etwas gesagt, das mich so tief im Heimlichsten getroffen hatte. Ich konnte nicht antworten. Was mich aber am stärksten und sonderbarsten berührt hatte, das war der Gleichklang dieses Zuspruches mit Worten Demians, die ich seit Jahren und Jahren in mir trug. Sie wußten nichts voneinander, und beide sagten mir dasselbe.
„Die Dinge, die wir sehen,“ sagte Pistorius leise, „sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. Sinclair, der Weg der meisten ist leicht, unsrer ist schwer. — Wir wollen gehen.“
Einige Tage später, nachdem ich zweimal vergebens auf ihn gewartet hatte, traf ich ihn spät am Abend auf der Straße an, wie er einsam im kalten Nachtwinde um eine Ecke geweht kam, stolpernd und ganz betrunken. Ich mochte ihn nicht anrufen. Er kam an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und starrte vor sich hin mit glühenden und vereinsamten Augen, als folge er einem dunklen Ruf aus dem Unbekannten. Ich folgte ihm eine Straße lang, er trieb wie an unsichtbarem Draht gezogen dahin, mit fanatischem und doch aufgelöstem Gang, wie ein Gespenst. Traurig ging ich nach Hause zurück, zu meinen unerlösten Träumen.
„So erneuert er nun die Welt in sich!“ dachte ich, und fühlte noch im selben Augenblick, daß das niedrig und moralisch gedacht sei. Was wußte ich von seinen Träumen? Er ging vielleicht in seinem Rausch den sicherern Weg als ich in meiner Bangnis.
In den Pausen zwischen den Schulstunden war mir zuweilen aufgefallen, daß ein Mitschüler meine Nähe suchte, den ich nie beachtet hatte. Es war ein kleiner, schwach aussehender, schmächtiger Jüngling mit rötlich blondem, dünnem Haar, der in Blick und Benehmen etwas Eigenes hatte. Eines Abends, als ich nach Hause kam, lauerte er in der Gasse auf mich, ließ mich an sich vorübergehen, lief mir dann wieder nach, und blieb vor unsrer Haustür stehen.
„Willst du etwas von mir?“ fragte ich.
„Ich möchte bloß einmal mit dir sprechen,“ sagte er schüchtern. „Sei so gut und komm ein paar Schritte mit.“
Ich folgte ihm und spürte, daß er tief erregt und voll Erwartung war. Seine Hände zitterten.
„Bist du Spiritist?“ fragte er ganz plötzlich.
„Nein, Knauer,“ sagte ich lachend. „Keine Spur davon. Wie kommst du auf so etwas?“
„Aber Theosoph bist du?“
„Auch nicht.“
„Ach, sei nicht so verschlossen! Ich spüre doch ganz gut, daß etwas Besonderes mit dir ist. Du hast es in den Augen. Ich glaube bestimmt, daß du Umgang mit Geistern hast. — Ich frage nicht aus Neugierde, Sinclair, nein! Ich bin selber ein Suchender, weißt du, und ich bin so allein.“
„Erzähle nur!“ munterte ich ihn an. „Ich weiß von Geistern zwar gar nichts, ich lebe in meinen Träumen, und das hast du gespürt. Die anderen Leute leben auch in Träumen, aber nicht in ihren eigenen, das ist der Unterschied.“
„Ja, so ist es vielleicht,“ flüsterte er. „Es kommt nur drauf an, welcher Art die Träume sind, in denen man lebt. — Hast du schon von der weißen Magie gehört?“
Ich mußte verneinen.
„Das ist, wenn man lernt, sich selber zu beherrschen. Man kann unsterblich werden, und auch zaubern. Hast du nie solche Übungen gemacht?“
Auf meine neugierige Frage nach diesen Übungen tat er erst geheimnisvoll, bis ich mich zum Gehen wandte, dann kramte er aus.
„Zum Beispiel, wenn ich einschlafen oder auch mich konzentrieren will, dann mache ich eine solche Übung. Ich denke mir irgend etwas, zum Beispiel ein Wort oder einen Namen, oder eine geometrische Figur. Die denke ich dann in mich hinein, so stark ich kann, ich suche sie mir innen in meinem Kopf vorzustellen, bis ich fühle, daß sie darin ist. Dann denke ich sie in den Hals, und so weiter, bis ich ganz davon ausgefüllt bin. Dann bin ich ganz fest, und nichts mehr kann mich aus der Ruhe bringen.“
Ich begriff einigermaßen, wie er es meine. Doch fühlte ich wohl, daß er noch anderes auf dem Herzen habe, er war seltsam erregt und hastig. Ich suchte ihm das Fragen leicht zu machen, und bald kam er denn mit seinem eigentlichen Anliegen.
„Du bist doch auch enthaltsam?“ fragte er mich ängstlich.
„Wie meinst du das? Meinst du das Geschlechtliche?“
„Ja, ja. Ich bin jetzt seit zwei Jahren enthaltsam, seit ich von der Lehre weiß. Vorher habe ich ein Laster getrieben, du weißt schon. — Du bist also nie bei einem Weib gewesen?“
„Nein,“ sagte ich. „Ich habe die Richtige nicht gefunden.“
„Aber wenn du die fändest, von der du meinst, sie sei die Richtige, dann würdest du mit ihr schlafen?“
„Ja, natürlich. — Wenn sie nichts dagegen hat,“ sagte ich mit etwas Spott.
„O da bist du aber auf dem falschen Weg! Die inneren Kräfte kann man nur ausbilden, wenn man völlig enthaltsam bleibt. Ich habe es getan, zwei Jahre lang. Zwei Jahre und etwas mehr als einen Monat! Es ist so schwer! Manchmal kann ich es kaum mehr aushalten.“
„Höre, Knauer, ich glaube nicht, daß die Enthaltsamkeit so furchtbar wichtig ist.“
„Ich weiß,“ wehrte er ab, „das sagen alle. Aber von dir habe ich es nicht erwartet. Wer den höheren geistigen Weg gehen will, der muß rein bleiben, unbedingt!“
„Ja, dann tu es! Aber ich begreife nicht, warum einer ‚reiner‘ sein soll, der sein Geschlecht unterdrückt, als irgendein anderer. Oder kannst du das Geschlechtliche auch aus allen Gedanken und Träumen ausschalten?“
Er sah mich verzweifelt an.
„Nein, eben nicht! Herrgott, und doch muß es sein. Ich habe in der Nacht Träume, die ich nicht einmal mir selber erzählen könnte! Furchtbare Träume, du!“
Ich erinnerte mich dessen, was Pistorius mir gesagt hatte. Aber so sehr ich seine Worte als richtig empfand, ich konnte sie nicht weitergeben, ich konnte nicht einen Rat erteilen, der nicht aus meiner eigenen Erfahrung herkam und dessen Befolgung ich mich selber noch nicht gewachsen fühlte. Ich wurde schweigsam und fühlte mich dadurch gedemütigt, daß da jemand Rat bei mir suchte, dem ich keinen zu geben hatte.
„Ich habe alles probiert!“ jammerte Knauer neben mir. „Ich habe getan, was man tun kann, mit kaltem Wasser, mit Schnee, mit Turnen und Laufen, aber es hilft alles nichts. Jede Nacht wache ich aus Träumen auf, an die ich gar nicht denken darf. Und das Entsetzliche ist: darüber geht mir allmählich alles wieder verloren, was ich geistig gelernt hatte. Ich bringe es beinahe nie mehr fertig, mich zu konzentrieren oder mich einzuschläfern, oft liege ich die ganze Nacht wach. Ich halte das nimmer lang aus. Wenn ich schließlich doch den Kampf nicht durchführen kann, wenn ich nachgebe und mich wieder unrein mache, dann bin ich schlechter als alle anderen, die überhaupt nie gekämpft haben. Das begreifst du doch?“
Ich nickte, konnte aber nichts dazu sagen. Er begann mich zu langweilen, und ich erschrak vor mir selber, daß mir seine offensichtliche Not und Verzweiflung keinen tiefern Eindruck machte. Ich empfand nur: ich kann dir nicht helfen.
„Also weißt du mir gar nichts?“ sagte er schließlich erschöpft und traurig. „Gar nichts? Es muß doch einen Weg geben! Wie machst denn du es?“
„Ich kann dir nichts sagen, Knauer. Man kann einander da nicht helfen. Mir hat auch niemand geholfen. Du mußt dich auf dich selber besinnen, und dann mußt du das tun, was wirklich aus deinem Wesen kommt. Es gibt nichts anderes. Wenn du dich selber nicht finden kannst, dann wirst du auch keine Geister finden, glaube ich.“
Enttäuscht und plötzlich stumm geworden, sah der kleine Kerl mich an. Dann glühte sein Blick in plötzlicher Gehässigkeit auf, er schnitt mir eine Grimasse und schrie wütend: „Ah, du bist mir ein schöner Heiliger! Du hast auch dein Laster, ich weiß es! Du tust wie ein Weiser und heimlich hängst du am gleichen Dreck wie ich und alle! Du bist ein Schwein, ein Schwein, wie ich selber. Alle sind wir Schweine!“
Ich ging weg und ließ ihn stehen. Er tat mir zwei, drei Schritte nach, dann blieb er zurück, kehrte um und rannte davon. Mir wurde übel aus einem Gefühl von Mitleid und Abscheu, und ich kam von dem Gefühl nicht los, bis ich zu Hause in meinem kleinen Zimmerchen meine paar Bilder um mich stellte und mich mit sehnlichster Innigkeit meinen eigenen Träumen hingab. Da kam sofort mein Traum wieder, vom Haustor und Wappen, von der Mutter und der fremden Frau, und ich sah die Züge der Frau so überdeutlich, daß ich noch am selben Abend ihr Bild zu zeichnen begann.
Als diese Zeichnung nach einigen Tagen fertig war, in traumhaften Viertelstunden wie bewußtlos hingestrichen, hängte ich sie am Abend an meiner Wand auf, rückte die Studierlampe davor und stand vor ihr wie vor einem Geist, mit dem ich kämpfen mußte bis zur Entscheidung. Es war ein Gesicht, ähnlich dem frühern, ähnlich meinem Freund Demian, in einigen Zügen auch ähnlich mir selber. Das eine Auge stand auffallend höher als das andere, der Blick ging über mich weg in versunkener Starrheit, voll von Schicksal.
Ich stand davor und wurde vor innerer Anstrengung kalt bis in die Brust hinein. Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete zu ihm; ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und Dirne, nannte es Abraxas. Dazwischen fielen Worte von Pistorius — oder von Demian? — mir ein; ich konnte mich nicht erinnern, wann sie gesprochen waren, aber ich meinte sie wieder zu hören. Es waren Worte über den Kampf Jakobs mit dem Engel Gottes, und das „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“.
Das gemalte Gesicht im Lampenschein verwandelte sich bei jeder Anrufung. Es wurde hell und leuchtend, wurde schwarz und finster, schloß fahle Lider über erstorbenen Augen, öffnete sie wieder und blitzte glühende Blicke, es war Frau, war Mann, war Mädchen, war ein kleines Kind, ein Tier, verschwamm zum Fleck, wurde wieder groß und klar. Am Ende schloß ich, einem starken inneren Rufe folgend, die Augen und sah nun das Bild inwendig in mir, stärker und mächtiger. Ich wollte vor ihm niederknien, aber es war so sehr in mir innen, daß ich es nicht mehr von mir trennen konnte, als wäre es zu lauter Ich geworden.