Der Zauberberg. Erster Band

Satana macht ehrrührige Vorschläge

Später verlor er das Bewußtsein. Nach seiner Taschenuhr war es halb vier, als Gespräch hinter der linken Glaswand ihn weckte: Dr. Krokowski, der um diese Zeit ohne den Hofrat die Runde machte, sprach dort russisch mit dem unmanierlichen Ehepaar, erkundigte sich, wie es schien, nach dem Befinden des Gatten und ließ sich seine Fiebertabelle zeigen. Dann aber setzte er seinen Weg nicht durch die Balkonlogen fort, sondern umging Hans Castorps Abteil, indem er sich auf den Korridor zurückbegab und durch die Zimmertür bei Joachim eintrat. Daß man solchergestalt einen Bogen um ihn beschrieb und ihn links liegen ließ, empfand Hans Castorp denn doch als etwas verletzend, obgleich ihn nach einem Zusammensein unter vier Augen mit Dr. Krokowski ja durchaus nicht verlangte. Freilich, er war eben gesund und zählte nicht mit, – denn bei denen hier oben, dachte er, lagen die Dinge so, daß derjenige nicht in Betracht kam und nicht gefragt wurde, der die Ehre hatte, gesund zu sein, und das ärgerte den jungen Castorp.

Nachdem Dr. Krokowski sich bei Joachim zwei oder drei Minuten verweilt hatte, ging er den Balkon entlang weiter, und Hans Castorp hörte den Vetter sagen, daß man nun aufstehen und sich zur Vespermahlzeit bereit machen könne. „Schön“, sagte er und stand auf. Aber es schwindelte ihn sehr vom langen Liegen, und der unerquickliche Halbschlaf hatte ihm das Gesicht aufs neue peinlich erhitzt, während er übrigens zum Frösteln neigte, – vielleicht hatte er sich nicht warm genug zugedeckt.

Er wusch sich Augen und Hände, ordnete sein Haar und seine Kleider und traf mit Joachim auf dem Korridor zusammen.

„Hast du diesen Herrn Albin gehört?“ fragte er, als sie die Treppen hinunter gingen ...

„Natürlich“, sagte Joachim. „Der Mensch müßte diszipliniert werden. Stört da die ganze Mittagsruhe mit seinem Geschwätz und regt die Damen so auf, daß er sie um Wochen zurückbringt. Eine grobe Insubordination. Aber wer will denn den Denunzianten machen. Und außerdem sind solche Reden ja den meisten als Unterhaltung willkommen.“

„Hältst du es für möglich,“ fragte Hans Castorp, „daß er Ernst macht mit seiner ‚glatten Sache‘, wie er sich ausdrückt, und sich einen Fremdkörper appliziert?“

„Ach, doch,“ antwortete Joachim, „ganz unmöglich ist es nicht. Dergleichen kommt vor hier oben. Zwei Monate bevor ich kam hat sich ein Student, der schon lange hier war, nach einer Generaluntersuchung im Walde drüben aufgehängt. Es war in meinen ersten Tagen noch viel die Rede davon.“

Hans Castorp gähnte erregt.

„Ja, gut fühle ich mich nicht bei euch,“ erklärte er, „das kann ich nicht sagen. Ich halte es für möglich, daß ich nicht bleiben kann, du, daß ich abreisen muß, – würdest du es mir weiter übelnehmen?“

„Abreisen? Was fällt dir ein!“ rief Joachim. „Unsinn. Wo du gerade erst angekommen bist. Wie willst du denn urteilen nach dem ersten Tage!“

„Gott, ist noch immer der erste Tag? Mir ist ganz, als wäre ich schon lange – lange bei euch hier oben.“

„Nun fange nur nicht wieder an, über die Zeit zu spintisieren!“ sagte Joachim. „Ganz konfus hast du mich heute morgen gemacht.“

„Nein, sei beruhigt, ich habe alles vergessen“, erwiderte Hans Castorp. „Den ganzen Komplex. Jetzt bin ich auch kein bißchen scharf mehr im Kopfe, das ist vorüber ... Nun gibt es also Tee.“

„Ja, und dann gehen wir wieder bis zu der Bank von heute morgen.“

„In Gottes Namen. Aber hoffentlich treffen wir Settembrini nicht wieder. Ich kann mich heute an keinem gebildeten Gespräch mehr beteiligen, das sage ich dir im voraus.“

Im Speisesaal wurden alle Getränke geschenkt, die zu dieser Stunde nur irgend in Betracht kommen. Miß Robinson trank wieder ihren blutroten Hagebuttentee, während die Großnichte Yoghurt löffelte. Außerdem gab es Milch, Tee, Kaffee, Schokolade, ja sogar Fleischbrühe, und überall waren die Gäste, die seit dem üppigen Mittagsmahl zwei Stunden liegend verbracht hatten, eifrig beschäftigt, Butter auf große Schnitten Rosinenkuchen zu streichen.

Hans Castorp hatte sich Tee geben lassen und tauchte Zwieback hinein. Auch etwas Marmelade versuchte er. Den Rosinenkuchen betrachtete er genau, doch erzitterte er buchstäblich bei dem Gedanken, davon zu essen. Abermals saß er an seinem Platze im Saal mit dem einfältig bunten Gewölbe, den sieben Tischen, – zum viertenmal. Etwas später, um sieben Uhr, saß er zum fünftenmal dort, und da galt es das Abendessen. In die Zwischenzeit, welche kurz und nichtig war, fiel ein Spaziergang zu jener Bank an der Bergwand, beim Wasserrinnsal – der Weg war jetzt dicht belebt von Patienten, so daß die Vettern häufig zu grüßen hatten – und eine neuerliche Liegekur auf dem Balkon, von flüchtigen und gehaltlosen anderthalb Stunden. Hans Castorp fröstelte heftig dabei.

Zur Abendmahlzeit kleidete er sich gewissenhaft um und aß dann zwischen Miß Robinson und der Lehrerin Juliennesuppe, gebackenes und gebratenes Fleisch nebst Zubehör, zwei Stücke von einer Torte, in der alles vorkam: Makronenteig, Buttercreme, Schokolade, Fruchtmus und Marzipan, und sehr guten Käse auf Pumpernickel. Wieder ließ er sich eine Flasche Kulmbacher dazu geben. Als er jedoch sein hohes Glas zur Hälfte geleert hatte, erkannte er klar und deutlich, daß er ins Bett gehöre. In seinem Kopfe rauschte es, seine Augenlider waren wie Blei, sein Herz ging wie eine kleine Pauke, und zu seiner Qual bildete er sich ein, daß die hübsche Marusja, die, vornüber geneigt, ihr Gesicht in der Hand mit dem kleinen Rubin verbarg, über ihn lache, obgleich er sich so angestrengt bemüht hatte, keinerlei Veranlassung dazu zu geben. Wie aus weiter Ferne hörte er Frau Stöhr etwas erzählen oder behaupten, was ihm als so tolles Zeug erschien, daß er in verwirrte Zweifel geriet, ob er noch richtig höre oder ob Frau Stöhrs Äußerungen sich vielleicht in seinem Kopfe zu Unsinn verwandelten. Sie erklärte, daß sie achtundzwanzig verschiedene Fischsaucen zu bereiten verstehe, – sie habe den Mut, dafür einzustehen, obgleich ihr eigener Mann sie gewarnt habe, davon zu sprechen. „Sprich nicht davon!“ habe er gesagt. „Niemand wird es dir glauben, und wenn man es glaubt, so wird man es lächerlich finden!“ Und doch wolle sie es heute einmal sagen und offen bekennen, daß es achtundzwanzig Fischsaucen seien, die sie machen könne. Das schien dem armen Hans Castorp entsetzlich; er erschrak, griff sich mit der Hand an die Stirn und vergaß vollkommen, einen Bissen Pumpernickel mit Chester, den er im Munde hatte, fertig zu kauen und hinunterzuschlucken. Noch als man von Tische aufstand, hatte er ihn im Munde.

Man ging durch die Glastür zur Linken hinaus, jene fatale, die immer zufiel und die geradewegs in die vordere Halle führte. Fast alle Gäste nahmen diesen Weg, denn es zeigte sich, daß um die Stunde nach dem Diner in der Halle und den anliegenden Salons eine Art von Geselligkeit stattfand. Die Mehrzahl der Patienten stand in kleinen Gruppen plaudernd umher. An zwei grün ausgeschlagenen Klapptischen lag man dem Spiele ob; es war Domino an dem einen, Bridge an dem anderen Tische, und hier waren es nur junge Leute, die spielten, darunter Herr Albin und Hermine Kleefeld. Ferner gab es ein paar unterhaltende optische Gegenstände im ersten Salon: einen stereoskopischen Guckkasten, durch dessen Linsen man die in seinem Innern aufgestellten Photographien, zum Beispiel einen venezianischen Gondolier, in starrer und blutloser Körperlichkeit erblickte; zweitens ein fernrohrförmiges Kaleidoskop, an dessen Linse man ein Auge legte, um sich, nur durch leichte Handhabung eines Rades, buntfarbige Sterne und Arabesken in zauberhafter Abwechslung vorzugaukeln; eine drehende Trommel endlich, in die man kinematographische Filmstreifen legte und durch deren Öffnungen, wenn man seitlich hineinsah, ein Müller, der sich mit einem Schornsteinfeger prügelte, ein Schulmeister, einen Knaben züchtigend, ein springender Seiltänzer und ein Bauernpärchen im Ländlertanz zu beobachten waren. Hans Castorp, die kalten Hände auf den Knien, blickte längere Zeit in jeden der Apparate. Er verweilte sich auch ein wenig am Bridgetische, wo der unheilbare Herr Albin mit hängenden Mundwinkeln und weltmännisch wegwerfenden Bewegungen die Karten handhabte. In einem Winkel saß Dr. Krokowski, begriffen in frischem und herzlichem Gespräch mit einem Halbkreise von Damen, zu welchem Frau Stöhr, Frau Iltis und Fräulein Levi gehörten. Die Inhaber des Guten Russentisches hatten sich in den anstoßenden kleineren Salon zurückgezogen, der nur durch Portieren vom Spielzimmer getrennt war, und bildeten dort eine intime Clique. Es waren außer Madame Chauchat: ein blondbärtiger, schlaffer Herr mit konkavem Brustkasten und glotzenden Augäpfeln; ein tief brünettes Mädchen von originellem und humoristischem Typus, mit goldenen Ohrringen und wirrem Wollhaar; ferner Dr. Blumenkohl, der sich ihnen zugesellt hatte, und noch zwei hängeschultrige Jünglinge. Madame Chauchat trug ein blaues Kleid mit weißem Spitzenkragen. Sie saß, als Mittelpunkt ihrer Gruppe, auf dem Sofa hinter dem runden Tisch, im Hintergrunde des kleinen Gemaches, das Gesicht dem Spielzimmer zugewandt. Hans Castorp, der die ungezogene Frau nicht ohne Mißbilligung betrachten konnte, dachte bei sich: Sie erinnert mich an irgend etwas, doch kann ich nicht sagen, an was ... Ein langer Mensch von etwa dreißig Jahren und mit gelichtetem Haupthaar spielte an dem kleinen braunen Pianoforte dreimal hintereinander den Hochzeitsmarsch aus dem „Sommernachtstraum“, und als einige Damen ihn darum baten, begann er das melodiöse Stück zum viertenmal, nachdem er einer nach der anderen tief und schweigend in die Augen geblickt hatte.

„Ist es erlaubt, sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen, Ingenieur?“ fragte Settembrini, welcher, die Hände in den Hosentaschen, zwischen den Gästen umhergeschlendert war und nun vor Hans Castorp hintrat ... Noch immer trug er seinen grauen, flausartigen Rock und die hell karierten Beinkleider. Er lächelte bei seiner Anrede, und wieder empfand Hans Castorp etwas wie Ernüchterung beim Anblick dieses fein und spöttisch gekräuselten Mundwinkels unter der Biegung des schwarzen Schnurrbartes. Übrigens blickte er den Italiener ziemlich blöde, mit schlaffem Munde und rotgeäderten Augen an.

„Ach, Sie sind es“, sagte er. „Der Herr vom Morgenspaziergang, den wir bei dieser Bank da oben ... beim Wasserlauf ... Natürlich, ich habe Sie sofort wieder erkannt. Wollen Sie glauben,“ fuhr er fort, obgleich er wohl einsah, daß er es nicht hätte sagen dürfen, „daß ich Sie damals im ersten Augenblick für einen Drehorgelmann gehalten habe? ... Das war natürlich der reine Unsinn,“ setzte er hinzu, da er sah, daß Settembrini’s Blick einen kühl forschenden Ausdruck annahm, „– eine furchtbare Dummheit mit einem Wort! Es ist mir sogar vollständig unbegreiflich, wie in aller Welt ich ...“

„Beunruhigen Sie sich nicht, es hat nichts zu sagen“, erwiderte Settembrini, nachdem er den jungen Mann noch einen Augenblick schweigend betrachtet hatte. „Und wie haben Sie also Ihren Tag verbracht, – den ersten Ihres Aufenthaltes an diesem Lustorte?“

„Ich danke sehr. Ganz vorschriftsmäßig“, antwortete Hans Castorp. „Vorwiegend auf ‚horizontale Art‘, wie Sie es mit Vorliebe nennen sollen.“

Settembrini lächelte.

„Es mag sein, daß ich mich gelegentlich so ausgedrückt habe“, sagte er. „Nun, und Sie fanden sie kurzweilig, diese Lebensweise?“

„Kurzweilig und langweilig, wie Sie nun wollen“, erwiderte Hans Castorp. „Das ist zuweilen schwer zu unterscheiden, wissen Sie. Ich habe mich durchaus nicht gelangweilt, – dazu ist es doch ein allzu munterer Betrieb bei Ihnen hier oben. Man bekommt so viel Neues und Merkwürdiges zu hören und zu sehen ... Und doch ist mir auch andererseits wieder, als ob ich nicht nur einen Tag, sondern schon längere Zeit hier wäre, – geradezu, als ob ich hier schon älter und klüger geworden wäre, so kommt es mir vor.“

„Klüger auch?“ sagte Settembrini und zog die Brauen hoch. „Wollen Sie mir die Frage erlauben: Wie alt sind Sie eigentlich?“

Aber siehe da, Hans Castorp wußte es nicht! Er wußte im Augenblick nicht, wie alt er sei, trotz heftiger, ja verzweifelter Anstrengungen, sich darauf zu besinnen. Um Zeit zu gewinnen, ließ er sich die Frage wiederholen und sagte dann:

„... Ich ... wie alt? Ich bin natürlich im vierundzwanzigsten. Demnächst werde ich vierundzwanzig. Verzeihen Sie, ich bin müde!“ sagte er. „Und Müdigkeit ist noch gar nicht der Ausdruck für meinen Zustand. Kennen Sie das, wenn man träumt und weiß, daß man träumt und zu erwachen sucht und nicht aufwachen kann? Genau so ist mir zumut. Unbedingt muß ich Fieber haben, anders kann ich es mir gar nicht erklären. Wollen Sie glauben, daß ich bis zu den Knien hinauf kalte Füße habe? Wenn man so sagen darf, denn die Knie sind ja natürlich nicht mehr die Füße, – entschuldigen Sie, ich bin im höchsten Grade konfus, und das ist ja auch am Ende kein Wunder, wenn man schon am frühen Morgen mit dem ... mit dem Pneumothorax angepfiffen wird und nachher die Reden dieses Herrn Albin mit anhört und obendrein in horizontaler Lage. Denken Sie, mir ist immer, als dürfte ich meinen fünf Sinnen nicht mehr recht trauen, und ich muß sagen, das geniert mich noch mehr, als die Hitze im Gesicht und die kalten Füße. Sagen Sie mir offen: halten Sie es für möglich, daß Frau Stöhr achtundzwanzig Fischsaucen zu machen versteht? Ich meine nicht, ob sie sie wirklich machen kann – das halte ich für ausgeschlossen – sondern ob sie es auch nur wirklich vorhin bei Tische behauptet hat oder ob es mir nur so vorkam, – nur das möchte ich wissen.“

Settembrini sah ihn an. Er schien nicht zugehört zu haben. Wieder hatten seine Augen „sich festgesehen“, waren in eine fixe und blinde Einstellung geraten, und wie heute morgen sagte er je dreimal „so, so, so“ und „sieh, sieh, sieh“, – spöttisch-nachdenklich und mit scharfem S-Laut.

„Vierundzwanzig sagten Sie?“ fragte er dann ...

„Nein, achtundzwanzig!“ sagte Hans Castorp. „Achtundzwanzig Fischsaucen! Nicht Saucen im allgemeinen, sondern speziell Fischsaucen, das ist das Ungeheuerliche.“

„Ingenieur!“ sagte Settembrini zornig und ermahnend. „Nehmen Sie sich zusammen und lassen Sie mich mit diesem liederlichen Unsinn in Ruhe! Ich weiß nichts davon und will nichts davon wissen. – Im vierundzwanzigsten, sagten Sie? Hm ... gestatten Sie mir noch eine Frage oder einen unmaßgeblichen Vorschlag, wenn Sie so wollen. Da der Aufenthalt Ihnen nicht zuträglich zu sein scheint, da Sie sich körperlich und, wenn mich nicht alles täuscht, auch seelisch nicht wohl bei uns befinden, – wie wäre es denn da, wenn Sie darauf verzichteten, hier älter zu werden, kurz, wenn Sie noch heute nacht wieder aufpackten und sich morgen mit den fahrplanmäßigen Schnellzügen auf- und davonmachten?“

„Sie meinen, ich sollte abreisen?“ fragte Hans Castorp ... „Wo ich gerade erst angekommen bin? Aber nein, wie will ich denn urteilen nach dem ersten Tage!“

Zufällig blickte er ins Nebenzimmer bei diesen Worten und sah dort Frau Chauchat von vorn, ihre schmalen Augen und breiten Backenknochen. Woran, dachte er, woran und an wen in aller Welt erinnert sie mich nur. Aber sein müder Kopf wußte die Frage trotz einiger Anstrengung nicht zu beantworten.

„Natürlich fällt es mir nicht so ganz leicht, mich bei Ihnen hier oben zu akklimatisieren,“ fuhr er fort, „das war doch vorauszusehen, und deshalb gleich die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil ich vielleicht ein paar Tage ein bißchen verwirrt und heiß sein werde, da müßte ich mich ja schämen, geradezu feig würde ich mir vorkommen und außerdem ginge es gegen alle Vernunft, – nein, sagen Sie selbst ...“

Er sprach auf einmal sehr eindringlich, mit erregten Schulterbewegungen, und schien den Italiener bestimmen zu wollen, seinen Vorschlag in aller Form zurückzunehmen.

„Ich salutiere der Vernunft“, antwortete Settembrini. „Ich salutiere übrigens auch dem Mute. Was Sie sagen, läßt sich wohl hören, es dürfte schwer sein, etwas Triftiges dagegen einzuwenden. Auch habe ich wirklich schöne Fälle von Akklimatisation beobachtet. Da war im vorigen Jahre Fräulein Kneifer, Ottilie Kneifer, durchaus von Familie, die Tochter eines höheren Staatsfunktionärs. Sie war wohl anderthalb Jahre hier und hatte sich so vortrefflich eingelebt, daß sie, als ihre Gesundheit vollkommen hergestellt war – denn das kommt vor, man wird zuweilen gesund hier oben –, daß sie auch dann noch um keinen Preis fort wollte. Sie bat den Hofrat von ganzer Seele, noch bleiben zu dürfen, sie könne und möge nicht heim, hier sei sie zu Hause, hier sei sie glücklich; da aber lebhafter Zudrang herrschte und man ihr Zimmer benötigte, so war ihr Flehen umsonst, und man beharrte darauf, sie als gesund zu entlassen. Ottilie bekam hohes Fieber, sie ließ ihre Kurve tüchtig ansteigen. Allein man entlarvte sie, indem man ihr das gebräuchliche Thermometer mit einer ‚Stummen Schwester‘ vertauschte, – Sie wissen noch nicht, was das ist, es ist ein Thermometer ohne Bezifferung, der Arzt kontrolliert ihn, indem er ein Maß daran legt und zeichnet die Kurve dann selbst. Ottilie, mein Herr, hatte 36,9, Ottilie war fieberfrei. Da badete sie im See, – wir schrieben Anfang Mai damals, wir hatten Nachtfröste, der See war nicht geradezu eiskalt, er hatte genau genommen ein paar Grad über Null. Sie blieb eine gute Weile im Wasser, um dies oder jenes abzubekommen, – allein der Erfolg? Sie war und blieb gesund. Sie schied in Schmerz und Verzweiflung, unzugänglich den Trostworten ihrer Eltern. ‚Was soll ich da unten?‘ rief sie wiederholt. ‚Hier ist meine Heimat!‘ Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist ... Aber mir scheint, Sie hören mich nicht, Ingenieur? Es kostet Sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten, wenn mich nicht alles täuscht. Leutnant, hier haben Sie Ihren Vetter!“ wandte er sich zu Joachim, der eben herantrat. „Führen Sie ihn zu Bette! Er vereinigt Vernunft und Mut, aber heute abend ist er ein wenig hinfällig.“

„Nein, wirklich, ich habe alles verstanden!“ beteuerte Hans Castorp. „Die Stumme Schwester ist also nur eine Quecksilbersäule, ganz ohne Bezifferung, – Sie sehen, ich habe es vollkommen aufgefaßt!“ Aber dann fuhr er doch mit Joachim im Lift hinauf, zusammen mit mehreren anderen Patienten, – die Geselligkeit war beendet für heute, man ging auseinander und suchte Hallen und Loggien auf, zur abendlichen Liegekur. Hans Castorp ging mit auf Joachims Zimmer. Der Boden des Korridors mit dem Kokosläufer vollführte sanfte Wellenbewegungen unter seinen Füßen, aber er empfand es nicht weiter unangenehm. Er setzte sich in Joachims großen geblümten Lehnstuhl – ein solcher Stuhl stand auch in seinem eigenen Zimmer – und zündete sich eine Maria Mancini an. Sie schmeckte nach Leim, nach Kohle und manchem anderen, nur nicht, wie sie sollte; doch fuhr er trotzdem fort, sie zu rauchen, während er zusah, wie Joachim sich zur Liegekur fertig machte, seine litewkaartige Hausjoppe anlegte, darüber einen älteren Paletot zog und dann mit der Nachttischlampe und seinem russischen Übungsbuch auf den Balkon hinausging, wo er das Lämpchen einschaltete und auf dem Liegestuhl, das Thermometer im Munde, sich mit erstaunlicher Gewandtheit in zwei große Kamelhaardecken zu wickeln begann, die über den Stuhl gebreitet waren. Hans Castorp sah mit aufrichtiger Bewunderung, wie geschickt er es ausführte. Er schlug die Decken, eine nach der anderen, zuerst von links der Länge nach bis unter die Achsel über sich, hierauf von unten über die Füße und dann von rechts, so daß er endlich ein vollkommen ebenmäßiges und glattes Paket bildete, aus dem nur Kopf, Schultern und Arme hervorsahen.

„Das machst du ja ausgezeichnet“, sagte Hans Castorp.

„Es ist die Übung“, antwortete Joachim, indem er beim Sprechen das Thermometer mit den Zähnen festhielt. „Du lernst es auch. Morgen müssen wir uns unbedingt ein paar Decken für dich besorgen. Du kannst sie unten schon wieder brauchen, und hier bei uns sind sie unerläßlich, besonders da du ja keinen Pelzsack hast.“

„Ich lege mich aber bei Nacht nicht auf den Balkon“, erklärte Hans Castorp. „Das tue ich nicht, ich sage es dir gleich. Es würde mir gar zu sonderbar vorkommen. Alles hat seine Grenzen. Und irgendwie muß ich ja schließlich auch markieren, daß ich nur zu Besuch bin bei euch hier oben. Ich sitze hier noch etwas und rauche meine Zigarre, wie es sich gehört. Sie schmeckt miserabel, aber ich weiß, daß sie gut ist, und das muß mir für heute genügen. Jetzt ist die Uhr gleich neun, – allerdings, leider ist es noch nicht mal neun. Aber wenn es halb zehn ist, dann ist es ja schon so weit, daß man halbwegs normalerweise zu Bett gehen kann.“

Ein Frostschauer überlief ihn, – einer und dann mehrere rasch hintereinander. Hans Castorp sprang auf und lief zum Wandthermometer, als gelte es, ihn in flagranti ertappen. Nach Réaumur waren neun Grad im Zimmer. Er faßte die Röhren an und fand sie tot und kalt. Er murmelte etwas Ungeordnetes, des Inhalts, wenn auch August sei, so sei es doch eine Schande, daß nicht geheizt werde, denn nicht auf den Monatsnamen komme es an, den man eben schreibe, sondern auf die herrschende Temperatur, und die sei so, daß ihn friere wie einen Hund. Aber sein Gesicht brannte. Er setzte sich wieder, stand nochmals auf, bat murmelnd um Erlaubnis, Joachims Bettdecke nehmen zu dürfen und breitete sie sich, im Stuhle sitzend, über den Unterkörper. So saß er, hitzig und fröstelnd, und quälte sich mit der widerlich schmeckenden Zigarre. Ein großes Elendsgefühl überkam ihn; ihm war, als sei es ihm noch nie im Leben so schlecht ergangen. „Das ist ja ein Elend!“ murmelte er. Dazwischen aber berührte ihn plötzlich ein ganz absonderlich ausschweifendes Gefühl der Freude und Hoffnung, und als er es empfunden hatte, saß er nur noch da, um zu warten, ob es nicht vielleicht wiederkäme. Es kam aber nicht wieder; nur das Elend blieb. Und so stand er denn schließlich auf, warf Joachims Decke aufs Bett zurück, murmelte verzerrten Mundes etwas wie „Gute Nacht!“ und „Erfriere nur nicht!“ und „Zum Frühstück holst du mich ja wohl wieder“ und schwankte über den Korridor in sein Zimmer hinüber.

Beim Auskleiden sang er vor sich hin, jedoch nicht aus Fröhlichkeit. Mechanisch und ohne den rechten Bedacht erledigte er die kleinen Handgriffe und kulturellen Pflichten der Nachttoilette, goß hellrotes Mundwasser aus dem Reiseflakon ins Glas und gurgelte diskret, wusch sich die Hände mit seiner guten und milden Veilchenseife und zog das lange Batisthemd an, das auf der Brusttasche mit den Buchstaben H C bestickt war. Dann legte er sich und löschte das Licht, indem er seinen heißen, verstörten Kopf auf das Sterbekissen der Amerikanerin zurückfallen ließ.

Aufs bestimmteste hatte er erwartet, daß er sogleich in Schlaf sinken werde, doch stellte sich das als Irrtum heraus, und seine Lider, die er vorhin kaum offenzuhalten vermocht hatte, – jetzt wollten sie durchaus nicht geschlossen bleiben, sondern öffneten sich unruhig zuckend, sobald er sie senkte. Es war noch nicht seine gewohnte Schlafenszeit, sagte er sich, und dann hatte er wohl tagüber zuviel gelegen. Auch wurde draußen ein Teppich geklopft, – was ja wenig wahrscheinlich und in der Tat überhaupt nicht der Fall war; sondern es erwies sich, daß sein Herz es war, dessen Schlag er außer sich und weit fort im Freien hörte, genau so, als werde dort draußen ein Teppich mit einem geflochtenen Rohrklopfer bearbeitet.

Es war im Zimmer noch nicht völlig dunkel geworden; der Schein der Lämpchen draußen in den Logen, bei Joachim und bei dem Paare vom Schlechten Russentisch, fiel durch die offene Balkontür herein. Und während Hans Castorp mit blinzelnden Lidern auf dem Rücken lag, erneute sich ihm plötzlich ein Eindruck, ein einzelner des Tages, eine Beobachtung, die er mit Schrecken und Zartgefühl sogleich zu vergessen gesucht hatte. Es war der Ausdruck, den Joachims Gesicht angenommen hatte, als von Marusja und ihren körperlichen Eigenschaften die Rede gewesen war, – diese ganz eigentümlich klägliche Verzerrung seines Mundes nebst fleckigem Erblassen seiner gebräunten Wangen. Hans Castorp verstand und durchschaute, was es bedeutete, verstand und durchschaute es auf eine so neue, eingehende und intime Art, daß der Rohrklopfer da draußen seine Schläge sowohl der Schnelligkeit wie der Stärke nach verdoppelte und beinahe die Klänge des Abendständchens in „Platz“ übertäubte – denn es war wieder Konzert in jenem Hotel dort unten; eine symmetrisch gebaute und abgeschmackte Operettenmelodie klang durch das Dunkel herüber, und Hans Castorp pfiff sie im Flüstertone mit (man kann ja flüsternd pfeifen), während er mit seinen kalten Füßen unter dem Federdeckbett den Takt dazu schlug.

Das war natürlich die rechte Art nicht einzuschlafen, und Hans Castorp spürte jetzt auch gar keine Neigung dazu. Seit er auf so neuartige und lebhafte Weise verstanden, warum Joachim sich verfärbt hatte, schien die Welt ihm neu, und jenes Gefühl ausschweifender Freude und Hoffnung berührte ihn wieder in seinem Innersten. Übrigens wartete er noch auf etwas, ohne sich recht zu fragen, worauf. Als er aber hörte, wie die Nachbarn zur Rechten und Linken die abendliche Liegekur beendeten und ihre Zimmer aufsuchten, um die horizontale Lage draußen mit derjenigen drinnen zu vertauschen, gab er vor sich selbst der Überzeugung Ausdruck, daß das barbarische Ehepaar Frieden halten werde. Ich kann ruhig einschlafen, dachte er. Sie werden heute abend Frieden halten, das erwarte ich aufs Bestimmteste! Aber sie taten es nicht, und Hans Castorp hatte es auch gar nicht aufrichtig gedacht, ja, die Wahrheit zu sagen, hätte er es persönlich und seinerseits nicht einmal verstanden, wenn sie Frieden gegeben hätten. Trotzdem erging er sich in tonlos hervorgestoßenen Ausrufen des heftigsten Erstaunens über das, was er hörte. „Unerhört!“ rief er ohne Stimme. „Das ist enorm! Wer hätte dergleichen für möglich gehalten?“ Und zwischendurch beteiligte er sich wieder mit flüsternden Lippen an der abgeschmackten Operettenmelodie, die hartnäckig herübertönte.

Später kam der Schlummer. Aber mit ihm kamen die krausen Traumbilder, noch krausere, als in der ersten Nacht, aus denen er des öfteren schreckhaft oder einem wirren Einfall nachjagend emporfuhr. Ihm träumte, er sähe Hofrat Behrens mit krummen Knien und steif nach vorn hängenden Armen die Gartenpfade dahinwandeln, indem er seine langen und gleichsam öde anmutenden Schritte einer fernen Marschmusik anpaßte. Als der Hofrat vor Hans Castorp stehenblieb, trug er eine Brille mit dicken, kreisrunden Gläsern und faselte Ungereimtes. „Zivilist natürlich“, sagte er und zog, ohne um Erlaubnis zu bitten, Hans Castorps Augenlid mit Zeige- und Mittelfinger seiner riesigen Hand herunter. „Ehrsamer Zivilist, wie ich gleich bemerkte. Aber nicht ohne Talent, gar nicht ohne Talent zur erhöhten Allgemeinverbrennung! Würde mit den Jährchen nicht geizen, den flotten Dienstjährchen bei uns hier oben! Na, nun mal hoppla die Herren und los mit dem Lustwandel!“ rief er, indem er seine beiden enormen Zeigefinger in den Mund steckte und so eigentümlich wohllautend darauf pfiff, daß von verschiedenen Seiten und in verkleinerter Gestalt die Lehrerin und Miß Robinson durch die Lüfte geflogen kamen und sich ihm rechts und links auf die Schultern setzten, wie sie im Speisesaal rechts und links von Hans Castorp saßen. So ging der Hofrat mit hüpfenden Tritten davon, wobei er mit einer Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wischen, – man wußte nicht, was da zu trocknen war, ob Schweiß oder Tränen.

Dann schien es dem Träumenden, als befinde er sich auf dem Schulhof, wo er so viele Jahre hindurch die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden verbracht, und sei im Begriffe, sich von Madame Chauchat, die ebenfalls zugegen war, einen Bleistift zu leihen. Sie gab ihm den rotgefärbten, nur noch halblangen in einem silbernen Crayon steckenden Stift, indem sie Hans Castorp mit angenehm heiserer Stimme ermahnte, ihn ihr nach der Stunde bestimmt zurückzugeben, und als sie ihn ansah, mit ihren schmalen blaugraugrünen Augen über den breiten Backenknochen, da riß er sich gewaltsam aus dem Traum empor, denn nun hatte er es und wollte es festhalten, woran und an wen sie ihn eigentlich so lebhaft erinnerte. Eilig brachte er die Erkenntnis für morgen in Sicherheit, denn er fühlte, daß Schlaf und Traum ihn wieder umfingen, und sah sich alsbald in der Lage, Zuflucht vor Dr. Krokowski suchen zu müssen, der ihm nachstellte, um Seelenzergliederung mit ihm vorzunehmen, wovor Hans Castorp eine tolle, eine wahrhaft unsinnige Angst empfand. Er floh vor dem Doktor behinderten Fußes an den Glaswänden vorbei durch die Balkonlogen, sprang mit Gefahr seines Lebens in den Garten hinab, suchte in seiner Not sogar die rotbraune Flaggenstange zu erklettern und erwachte schwitzend in dem Augenblick, als der Verfolger ihn am Hosenbein packte.

Kaum jedoch hatte er sich ein wenig beruhigt und war wieder eingeschlummert, als sich der Sachverhalt folgendermaßen für ihn gestaltete. Er bemühte sich, mit der Schulter Settembrini vom Fleck zu drängen, welcher dastand und lächelte, – fein, trocken und spöttisch, unter dem vollen, schwarzen Schnurrbart, dort, wo er sich in schöner Rundung aufwärts bog, und dieses Lächeln eben war es, was Hans Castorp als Beeinträchtigung empfand. „Sie stören!“ hörte er sich deutlich sagen. „Fort mit Ihnen! Sie sind nur ein Drehorgelmann, und Sie stören hier!“ Allein Settembrini ließ sich nicht von der Stelle drängen, und Hans Castorp stand noch, um nachzudenken, was hier zu tun sei, als ihm ganz unverhofft die ausgezeichnete Einsicht zuteil wurde, was eigentlich die Zeit sei: nämlich nichts anderes, als einfach eine Stumme Schwester, eine Quecksilbersäule ganz ohne Bezifferung, für diejenigen, welche mogeln wollten, – worüber er mit dem bestimmten Vorhaben erwachte, seinem Vetter Joachim morgen von diesem Funde Mitteilung zu machen.

Unter solchen Abenteuern und Entdeckungen verging die Nacht, und auch Hermine Kleefeld sowie Herr Albin und Hauptmann Miklosich, welch letzterer Frau Stöhr in seinem Rachen davontrug und von Staatsanwalt Paravant mit einem Speere durchbohrt wurde, spielten ihre verworrene Rolle dabei. Einen Traum aber träumte Hans Castorp sogar zweimal in dieser Nacht und zwar beide Male genau in derselben Form, – das letztemal gegen Morgen. Er saß im Saal mit den sieben Tischen, als unter dem größten Geschmetter die Glastür ins Schloß fiel und Madame Chauchat hereinkam, im weißen Sweater, die eine Hand in der Tasche, die andere am Hinterkopf. Statt aber zum Guten Russentische zu gehen, bewegte die unerzogene Frau sich ohne Laut auf Hans Castorp zu und reichte ihm schweigend die Hand zum Kusse, – aber nicht den Handrücken reichte sie ihm, sondern das Innere, und Hans Castorp küßte sie in die Hand, in ihre unveredelte, ein wenig breite und kurzfingerige Hand mit der aufgerauhten Haut zu Seiten der Nägel. Da durchdrang ihn wieder von Kopf bis zu Fuß jenes Gefühl von wüster Süßigkeit, das in ihm aufgestiegen war, als er zur Probe sich des Druckes der Ehre ledig gefühlt und die bodenlosen Vorteile der Schande genossen hatte, – dies empfand er nun wieder in seinem Traum, nur ungeheuer viel stärker.