Der Zauberberg. Erster Band

Enzyklopädie

Wenn gewisse Anspielungen Herrn Settembrinis Hans Castorp geärgert hatten, – verwundern durfte er sich nicht darüber und hatte kein Recht, den Humanisten erzieherischer Spürsucht zu zeihen. Ein Blinder hätte bemerken müssen, wie es um ihn stand: er selbst tat nichts, um es geheimzuhalten, eine gewisse Hochherzigkeit und noble Einfalt hinderte ihn einfach, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, worin er sich immerhin – und vorteilhaft, wenn man will, – von dem dünnhaarigen Verliebten aus Mannheim und seinem schleichenden Wesen unterschied. Wir erinnern und wiederholen, daß dem Zustande, in dem er sich befand, in der Regel ein Drang und Zwang, sich zu offenbaren, eingeboren ist, ein Trieb zum Bekenntnis und Geständnis, eine blinde Eingenommenheit von sich selbst und eine Sucht, die Welt mit sich zu erfüllen, – desto befremdlicher für uns Nüchterne, je weniger Sinn, Vernunft und Hoffnung offenbar bei der Sache ist. Wie solche Leute es eigentlich anfangen, sich zu verraten, ist schwer zu sagen; sie können, scheint es, nichts tun und lassen, was sie nicht verriete, – besonders nun gar in einer Gesellschaft, von der ein urteilender Kopf bemerkt hatte, sie habe im ganzen nur zwei Dinge im Sinn, nämlich erstens Temperatur und dann – nochmals Temperatur, das heißt zum Beispiel die Frage, mit wem Frau Generalkonsul Wurmbrandt aus Wien sich für die Flatterhaftigkeit des Hauptmanns Miklosich schadlos halte: ob mit dem völlig genesenen schwedischen Recken oder mit dem Staatsanwalt Paravant aus Dortmund oder drittens mit beiden zugleich. Denn daß die Bande, die den Staatsanwalt und Frau Salomon aus Amsterdam mehrere Monate lang verknüpft hatten, nach gütlicher Übereinkunft gelöst worden waren und Frau Salomon, dem Zuge ihrer Jahre folgend, sich den zarteren Semestern zugewandt und den wulstlippigen Gänser vom Tische der Kleefeld unter ihre Fittiche genommen oder, wie Frau Stöhr es in einer Art von Kanzleistil, dabei aber nicht ohne Anschaulichkeit ausdrückte, ihn „sich beigebogen“ hatte, – das war sicher und bekannt, so daß folglich der Staatsanwalt freie Hand hatte, sich der Generalkonsulin wegen mit dem Schweden zu schlagen oder zu vertragen.

Diese Prozesse also, die in der Berghofgesellschaft und besonders unter der febrilen Jugend anhängig waren, und bei denen die Balkondurchgänge (an den Glaswänden vorbei und das Geländer entlang) offenbar eine bedeutende Rolle spielten: diese Vorgänge hatte man im Sinn, sie bildeten einen Hauptbestandteil der hiesigen Lebensluft, – und auch damit ist das, was hier vorschwebt, nicht eigentlich ausgedrückt. Hans Castorp hatte nämlich den eigentümlichen Eindruck, daß auf einer Grundangelegenheit, welcher überall in der Welt eine hinlängliche, in Ernst und Scherz sich äußernde Wichtigkeit zugebilligt wird, hierorts denn doch ein Ton-, Wert- und Bedeutungszeichen lag, so schwer und vor Schwere so neu, daß es die Sache selbst in einem völlig neuen und, wenn nicht schrecklichen, so doch in seiner Neuheit erschreckenden Lichte erscheinen ließ. Indem wir dies aussagen, verändern wir unsere Mienen und bemerken, daß, wenn wir von den fraglichen Beziehungen bisher in einem leichten und spaßhaften Ton gesprochen haben sollten, es aus denselben geheimen Gründen geschehen wäre, aus denen es so oft geschieht, ohne daß für die Leichtigkeit oder Spaßhaftigkeit der Sache damit irgendetwas bewiesen wäre; und in der Sphäre, wo wir uns befinden, wäre das in der Tat noch weniger der Fall als anderwärts. Hans Castorp hatte geglaubt, sich auf jene gern bewitzelte Grundangelegenheit im üblichen Maße zu verstehen, und mochte mit Recht so geglaubt haben. Nun erkannte er, daß er sich im Flachlande nur sehr unzulänglich darauf verstanden, eigentlich sich in einfältiger Unwissenheit darüber befunden hatte, – während hier persönliche Erfahrungen, deren Natur wir mehrfach anzudeuten versuchten, und die ihm in gewissen Augenblicken den Ausruf „Mein Gott!“ abpreßten, ihn allerdings von innen her befähigten, den steigernden Akzent des Unerhörten, Abenteuerlich-Namenlosen wahrzunehmen und zu begreifen, den unter Denen hier oben die Sache allgemein und für jeden trug. Nicht daß man nicht auch hier darüber gewitzelt hätte. Aber weit mehr noch als unten trug hier diese Manier das Gepräge des Unsachgemäßen, sie hatte etwas Zähneklapperndes und Kurzatmiges, was sie als durchsichtigen Deckmantel für die darunter verborgene oder vielmehr nicht zu verbergende Not allzu deutlich kennzeichnete. Hans Castorp erinnerte sich des fleckigen Erblassens, das Joachim gezeigt hatte, als jener zum ersten und einzigen Mal in der unschuldig neckenden Art des Tieflandes die Rede auf Marusjas Körperlichkeit gebracht hatte. Er erinnerte sich auch der kalten Blässe, die, als er Frau Chauchat vom einfallenden Abendlichte befreit, sein eigenes Gesicht überzogen hatte, – und daran, daß er sie vorher und nachher bei verschiedenen Gelegenheiten auf manchem fremden Gesicht gewahr geworden war: auf zweien zugleich in der Regel, zum Beispiel auf den Gesichtern der Frau Salomon und des jungen Gänser in jenen Tagen, da das, was Frau Stöhr so redensartlich bezeichnet, sich zwischen ihnen angebahnt hatte. Er erinnerte sich, sagen wir, daran und verstand, daß es unter solchen Umständen nicht nur sehr schwer gewesen wäre, sich nicht zu „verraten“, sondern daß auch die Bemühung darum nur wenig gelohnt haben würde. Mit anderen Worten: es mochte denn doch wohl nicht allein Hoch- und Treuherzigkeit, sondern auch eine gewisse Ermutigung durch die Atmosphäre im Spiele sein, wenn Hans Castorp sich wenig bemüßigt fand, seinen Empfindungen Zwang anzutun und aus seinem Zustande ein Hehl zu machen.

Wäre nicht die von Joachim sofort hervorgehobene Schwierigkeit gewesen, hier Bekanntschaften zu machen, diese Schwierigkeit, die man hauptsächlich darauf zurückführen muß, daß die Vettern in der Kurgesellschaft sozusagen eine Partie und Miniaturgruppe für sich bildeten, und daß der militärische Joachim, auf nichts als rasche Genesung bedacht, der näheren Berührung und Gemeinschaft mit den Leidensgenossen grundsätzlich abhold war: so hätte Hans Castorp noch weit mehr Gelegenheit gehabt und genommen, seine Gefühle hochherzig-zügellos unter die Leute zu bringen. Immerhin konnte Joachim ihn eines Abends während der Salongeselligkeit betreffen, wie er mit Hermine Kleefeld, ihren beiden Tischherren Gänser und Rasmussen und viertens dem Jungen mit dem Einglas und dem Fingernagel zusammenstand und mit Augen, die ihren übernormalen Glanz nicht verleugneten, mit bewegter Stimme eine Stegreifrede über Frau Chauchats eigen- und fremdartige Gesichtsbildung hielt, während seine Zuhörer Blicke tauschten, sich anstießen und kicherten.

Das war peinigend für Joachim; aber der Urheber solcher Lustbarkeit war unempfindlich gegen die Enthüllung seines Zustandes, er mochte meinen, daß derselbe, unbeachtet und verborgen, nicht zu seinem Rechte gekommen wäre. Des allgemeinen Verständnisses dafür durfte er sicher sein. Die Schadenfreude, die sich darein mischte, nahm er in den Kauf. Nicht nur von seinem eigenen Tisch, sondern nachgerade auch von anderen, benachbarten blickte man auf ihn, um sich an seinem Erbleichen und Erröten zu weiden, wenn nach Beginn einer Mahlzeit die Glastür ins Schloß schmetterte, und auch hiermit war er wohl gar noch zufrieden, da es ihm schien, daß seinem Rausch, indem er Aufmerksamkeit erregte, eine gewisse Anerkennung und Bestätigung von außen zuteil werde, geeignet, seine Sache zu fördern, seine unbestimmten und unvernünftigen Hoffnungen zu ermutigen, – und das beglückte ihn sogar. Es kam dahin, daß man sich buchstäblich versammelte, um dem Verblendeten zuzusehen. Das war etwa nach Tische auf der Terrasse oder am Sonntag nachmittag vor der Conciergeloge, wenn die Kurgäste dort ihre Post in Empfang nahmen, die an diesem Tage nicht auf die Zimmer verteilt wurde. Vielfach wußte man, daß da ein kolossal Beschwipster und Hochilluminierter sei, der sich alles anmerken ließ, und so standen etwa Frau Stöhr, Fräulein Engelhart, die Kleefeld nebst ihrer Freundin mit dem Tapirgesicht, der unheilbare Herr Albin, der junge Mann mit dem Fingernagel und noch dieses oder jenes Mitglied der Patientenschaft, – standen mit hinuntergezogenen Mündern und durch die Nase pruschend und sahen ihm zu, der, verloren und leidenschaftlich lächelnd, jene Hitze auf den Wangen, die ihn sofort am ersten Abend seines Hierseins ergriffen, jenen Glanz in den Augen, den schon der Husten des Herrenreiters darin entzündet, in einer bestimmten Richtung blickte ...

Eigentlich war es schön von Herrn Settembrini, daß er unter solchen Umständen auf Hans Castorp zutrat, um ihn in ein Gespräch zu ziehen und nach seinem Ergehen zu fragen; aber es ist zweifelhaft, ob dieser die menschenfreundliche Vorurteilslosigkeit, die darin lag, dankbar zu würdigen wußte. Es mochte im Vestibül sein, am Sonntag nachmittag. Beim Concierge drängten sich die Gäste und streckten die Hände nach ihrer Post. Auch Joachim war dort vorn. Sein Vetter war zurückgeblieben und trachtete in der beschriebenen Verfassung, einen Blick Clawdia Chauchats zu gewinnen, die mit ihrer Tischgesellschaft in der Nähe stand, wartend, daß das Gedräng an der Loge sich lichten möge. Es war eine Stunde, die die Kurgäste durcheinandermischte, eine Stunde der Gelegenheiten, geliebt und ersehnt aus diesem Grunde von dem jungen Hans Castorp. Vor acht Tagen war er am Schalter in sehr nahe Berührung mit Madame Chauchat gekommen, so daß sie ihn sogar etwas gestoßen und mit flüchtiger Kopfwendung „Pardon“ zu ihm gesagt hatte, – worauf er kraft einer febrilen Geistesgegenwart, die er segnete, zu antworten vermocht hatte:

Pas de quoi, madame!

Welche Lebensgunst, dachte er, daß jeden Sonntag nachmittag mit Sicherheit in der Vorhalle Postverteilung stattfand! Man kann sagen, daß er die Woche konsumiert hatte, indem er auf die Wiederkehr derselben Stunde in sieben Tagen wartete, und Warten heißt: Voraneilen, heißt: Zeit und Gegenwart nicht als Geschenk, sondern nur als Hindernis empfinden, ihren Eigenwert verneinen und vernichten und sie im Geist überspringen. Warten, sagt man, sei langweilig. Es ist jedoch ebensowohl oder sogar eigentlich kurzweilig, indem es Zeitmengen verschlingt, ohne sie um ihrer selbst willen zu leben und auszunutzen. Man könnte sagen, der Nichts-als-Wartende gleiche einem Fresser, dessen Verdauungsapparat die Speisen, ohne ihre Nähr- und Nutzwerte zu verarbeiten, massenhaft durchtriebe. Man könnte weitergehen und sagen: wie unverdaute Speise ihren Mann nicht stärker mache, so mache verwartete Zeit nicht älter. Freilich kommt reines und unvermischtes Warten praktisch nicht vor.

Es war also die Woche verschlungen und die Sonntagnachmittagspoststunde wieder in Kraft getreten, nicht anders, als wäre es immer noch die von vor sieben Tagen. Aufs erregendste fuhr sie fort, Gelegenheit zu machen, barg und bot in jeder Minute die Möglichkeit, mit Frau Chauchat in gesellschaftliche Beziehungen zu treten: Möglichkeiten, von denen Hans Castorp sich das Herz pressen und jagen ließ, ohne sie ins Wirkliche übertreten zu lassen. Dem standen Hemmungen entgegen, die teils militärischer, teils zivilistischer Natur waren: – teils nämlich mit der Gegenwart des ehrenhaften Joachim und mit Hans Castorps eigener Ehre und Pflicht zusammenhingen, teils aber auch in dem Gefühl ihren Grund hatten, daß gesellschaftliche Beziehungen zu Clawdia Chauchat, gesittete Beziehungen, bei denen man „Sie“ sagte und Verbeugungen machte und womöglich Französisch sprach, – nicht nötig, nicht wünschenswert, nicht das Richtige seien ... Er stand und sah sie lachend sprechen, genau wie Pribislav Hippe dereinst auf dem Schulhof sprechend gelacht hatte: ihr Mund öffnete sich ziemlich weit dabei, und ihre schiefstehenden graugrünen Augen über den Backenknochen zogen sich zu schmalen Ritzen zusammen. Das war durchaus nicht „schön“; aber es war, wie es war, und bei der Verliebtheit kommt das ästhetische Vernunfturteil so wenig zu seinem Recht, wie das moralische. –

„Sie erwarten ebenfalls Briefschaften, Ingenieur?“

So redete nur einer, ein Störender. Hans Castorp fuhr zusammen und wandte sich Herrn Settembrini zu, der lächelnd vor ihm stand. Es war das feine und humanistische Lächeln, mit dem er dereinst bei der Bank am Wasserlauf den Ankömmling zuerst begrüßt hatte, und wie damals schämte Hans Castorp sich, als er es sah. Aber wie oft er auch im Traume den „Drehorgelmann“ von der Stelle zu drängen gesucht hatte, weil er „hier störe“, – der wachende Mensch ist besser als der träumende, und nicht nur zu seiner Beschämung und Ernüchterung wurde Hans Castorp dieses Lächelns wieder ansichtig, sondern auch mit Gefühlen dankbarer Bedürftigkeit. Er sagte:

„Gott, Briefschaften, Herr Settembrini. Ich bin doch kein Ambassadeur! Vielleicht ist eine Postkarte da für einen von uns. Mein Vetter sieht eben mal nach.“

„Mir hat der hinkende Teufel da vorn meine kleinen Korrespondenzen schon ausgehändigt“, sagte Settembrini und führte die Hand zur Seitentasche seines unvermeidlichen Flausrockes. „Interessante Dinge, Dinge von literarischer und sozialer Tragweite, ich leugne es nicht. Es handelt sich um ein enzyklopädisches Werk, an dem mitzuarbeiten ein humanitäres Institut mich würdigt ... Kurz, um schöne Arbeit.“ Herr Settembrini brach ab. „Aber Ihre Angelegenheiten?“ fragte er. „Wie steht es damit? Wie weit ist beispielsweise der Akklimatisierungsprozeß gediehen? Sie weilen alles in allem so lange noch nicht in unserer Mitte, daß die Frage nicht mehr an der Tagesordnung wäre.“

„Danke, Herr Settembrini; es hat nach wie vor seine Schwierigkeiten damit. Ich halte für möglich, daß es das bis zum letzten Tage haben wird. Manche gewöhnen sich nie, sagte mein Vetter mir gleich, als ich ankam. Aber man gewöhnt sich daran, daß man sich nicht gewöhnt.“

„Ein verwickelter Vorgang“, lachte der Italiener. „Eine sonderbare Art der Einbürgerung. Natürlich, die Jugend ist zu allem fähig. Sie gewöhnt sich nicht, aber sie schlägt Wurzeln.“

„Und schließlich ist das ja kein sibirisches Bergwerk hier.“

„Nein. Oh, Sie bevorzugen östliche Vergleiche. Sehr begreiflich. Asien verschlingt uns. Wohin man blickt: tatarische Gesichter.“ Und Herr Settembrini wandte diskret den Kopf über die Schulter. „Dschingis-Khan,“ sagte er, „Steppenwolfslichter, Schnee und Schnaps, Knute, Schlüsselburg und Christentum. Man sollte der Pallas Athene hier in der Vorhalle einen Altar errichten, – im Sinne der Abwehr. Sehen Sie, da vorn ist so ein Iwan Iwanowitsch ohne Weißzeug mit dem Staatsanwalt Paravant in Streit geraten. Jeder will vor dem anderen an der Reihe sein, seine Post zu empfangen. Ich weiß nicht, wer recht hat, aber für mein Gefühl steht der Staatsanwalt im Schutze der Göttin. Er ist zwar ein Esel, aber er versteht wenigstens Latein.“

Hans Castorp lachte, – was Herr Settembrini niemals tat. Man konnte ihn sich herzlich lachend gar nicht vorstellen; über die feine und trockene Spannung seines Mundwinkels brachte er es nicht hinaus. Er sah dem jungen Manne beim Lachen zu und fragte dann:

„Ihr Diapositiv – haben Sie bekommen?“

„Das habe ich bekommen!“ bestätigte Hans Castorp wichtig. „Schon neulich. Hier ist es.“ Und er griff in die innere Brusttasche.

„Ah, Sie tragen es im Portefeuille. Wie einen Ausweis sozusagen, einen Paß oder eine Mitgliedskarte. Sehr gut. Lassen Sie sehen!“ Und Herr Settembrini hob die kleine, mit schwarzen Papierstreifen gerahmte Glasplatte gegen das Licht, indem er sie zwischen Daumen und Zeigefinger seiner Linken hielt, – eine oft gesehene, sehr übliche Bewegung hier oben. Sein Gesicht mit den schwarzen Mandelaugen grimassierte ein wenig, während er das funebre Lichtbild prüfte, – ohne ganz deutlich werden zu lassen, ob es nur des genaueren Sehens wegen oder aus anderen Gründen geschah.

„Ja, ja“, sagte er dann. „Hier haben Sie Ihre Legitimation, ich danke bestens.“ Und er reichte das Glas seinem Besitzer zurück, reichte es ihm von der Seite, gewissermaßen über den eigenen Arm hinüber und abgewandten Gesichtes.

„Haben Sie die Stränge gesehen?“ fragte Hans Castorp. „Und die Knötchen?“

„Sie wissen,“ antwortete Herr Settembrini schleppend, „wie ich über den Wert dieser Produkte denke. Sie wissen auch, daß die Flecke und Dunkelheiten da im Inneren zum allergrößten Teil physiologisch sind. Ich habe hundert Bilder gesehen, die ungefähr aussahen wie Ihres, und die die Entscheidung, ob sie wirklich einen ‚Ausweis‘ bildeten oder nicht, einigermaßen in das Belieben des Beurteilers stellten. Ich rede als Laie, aber immerhin als ein langjähriger Laie.“

„Sieht Ihr eigener Ausweis schlimmer aus?“

„Ja, etwas schlimmer. – Übrigens ist mir bekannt, daß auch unsere Herren und Meister auf dieses Spielzeug allein keine Diagnose gründen. – Und Sie beabsichtigen nun also, bei uns zu überwintern?“

„Ja, lieber Gott ... Ich fange an, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ich erst mit meinem Vetter zusammen wieder hinunterfahren werde.“

„Das heißt, Sie gewöhnen sich daran, daß Sie sich nicht ... Sie formulierten das sehr witzig. Ich hoffe, Sie haben Ihre Sachen erhalten, – warme Kleider, solides Schuhwerk?“

„Alles. Alles in schönster Ordnung, Herr Settembrini. Ich habe meine Verwandten informiert, und unsere Haushälterin hat mir alles als Eilgut geschickt. Ich kann es nun aushalten.“

„Das beruhigt mich. Aber halt, Sie brauchen einen Sack, einen Pelzsack, – wo haben wir unsere Gedanken! Dieser Nachsommer ist trügerisch; in einer Stunde kann es tiefer Winter sein. Sie werden hier die kältesten Monate verbringen ...“

„Ja, der Liegesack,“ sagte Hans Castorp, „der ist wohl ein Zubehör. Ich habe auch schon flüchtig daran gedacht, daß wir in den nächsten Tagen mal, mein Vetter und ich, in den Ort gehen müssen und einen kaufen. Man braucht das Ding später nie wieder, aber schließlich für vier bis sechs Monate lohnt es.“

„Es lohnt, es lohnt. – Ingenieur!“ sagte Herr Settembrini leise, indem er näher an den jungen Mann herantrat. „Wissen Sie nicht, daß es grauenhaft ist, wie Sie mit den Monaten herumwerfen? Grauenhaft, weil unnatürlich und Ihrem Wesen fremd, nur auf der Gelehrigkeit Ihrer Jahre beruhend. Ach, diese übergroße Gelehrigkeit der Jugend! – sie ist die Verzweiflung der Erzieher, denn vor allem ist sie bereit, sich im Schlimmen zu bewähren. Reden Sie nicht, wie es in der Luft liegt, junger Mensch, sondern wie es Ihrer europäischen Lebensform angemessen ist! Hier liegt vor allem viel Asien in der Luft, – nicht umsonst wimmelt es von Typen aus der moskowitischen Mongolei! Diese Leute“ – und Herr Settembrini deutete mit dem Kinn über die Schulter hinter sich – „richten Sie sich innerlich nicht nach ihnen, lassen Sie sich von ihren Begriffen nicht infizieren, setzen Sie vielmehr Ihr Wesen, Ihr höheres Wesen gegen das ihre, und halten Sie heilig, was Ihnen, dem Sohn des Westens, des göttlichen Westens, – dem Sohn der Zivilisation, nach Natur und Herkunft heilig ist, zum Beispiel die Zeit! Diese Freigebigkeit, diese barbarische Großartigkeit im Zeitverbrauch ist asiatischer Stil, – das mag ein Grund sein, weshalb es den Kindern des Ostens an diesem Orte behagt. Haben Sie nie bemerkt, daß, wenn ein Russe ‚vier Stunden‘ sagt, es nicht mehr ist, als wenn unsereins ‚eine‘ sagt? Leicht zu denken, daß die Nonchalance dieser Menschen im Verhältnis zur Zeit mit der wilden Weiträumigkeit ihres Landes zusammenhängt. Wo viel Raum ist, da ist viel Zeit, – man sagt ja, daß sie das Volk sind, das Zeit hat und warten kann. Wir Europäer, wir können es nicht. Wir haben so wenig Zeit, wie unser edler und zierlich gegliederter Erdteil Raum hat, wir sind auf genaue Bewirtschaftung des einen wie des anderen angewiesen, auf Nutzung, Nutzung, Ingenieur! Nehmen Sie unsere großen Städte als Sinnbild, diese Zentren und Brennpunkte der Zivilisation, diese Mischkessel des Gedankens! In demselben Maße, wie der Boden sich dort verteuert, Raumverschwendung zur Unmöglichkeit wird, in demselben Maße, bemerken Sie das, wird dort auch die Zeit immer kostbarer. Carpe diem! Das sang ein Großstädter. Die Zeit ist eine Göttergabe, dem Menschen verliehen, damit er sie nutze – sie nutze, Ingenieur, im Dienste des Menschheitsfortschritts.“

Selbst dieses letzte Wort, so viele Hindernisse es seiner mediterranen Zunge bieten mochte, hatte Herr Settembrini auf erfreuliche Art, klar, wohllautend und – man kann wohl sagen – plastisch zu Gehör gebracht. Hans Castorp antwortete nicht anders, als mit der kurzen, steifen und befangenen Verbeugung eines Schülers, der eine verweisartige Belehrung entgegennimmt. Was hätte er erwidern sollen? Dies Privatissimum, das Herr Settembrini ihm insgeheim, mit dem Rücken gegen die ganze übrige Gästeschaft und beinahe flüsternd, gehalten, hatte zu sachlichen, zu ungesellschaftlichen, zu wenig gesprächsmäßigen Charakter getragen, als daß der Takt erlaubt hätte, auch nur Beifall zu äußern. Man antwortet einem Lehrer nicht: „Das haben Sie schön gesagt.“ Hans Castorp hatte es wohl früher manchmal getan, gewissermaßen um das gesellschaftliche Gleichheitsverhältnis zu wahren; allein so dringlich erzieherisch hatte der Humanist noch niemals gesprochen; es blieb nichts übrig, als die Vermahnung einzustecken, – benommen wie ein Schuljunge von soviel Moral.

Man sah übrigens Herrn Settembrini an, daß seine Gedankentätigkeit auch im Schweigen noch ihren Fortgang nahm. Noch immer stand er dicht vor Hans Castorp, so daß dieser sich sogar ein wenig zurückbeugte, und seine schwarzen Augen waren in fixer und sinnend blinder Einstellung auf des jungen Mannes Gesicht gerichtet.

„Sie leiden, Ingenieur!“ fuhr er fort. „Sie leiden wie ein Verirrter, – wer sähe es Ihnen nicht an? Aber auch Ihr Verhalten zum Leiden sollte ein europäisches Verhalten sein, – nicht das des Ostens, der, weil er weich und zur Krankheit geneigt ist, diesen Ort so ausgiebig beschickt ... Mitleid und unermeßliche Geduld, das ist seine Art, dem Leiden zu begegnen. Es kann, es darf die unsrige, die Ihre nicht sein! ... Wir sprachen von meiner Post ... Sehen Sie, hier ... Oder besser noch, – kommen Sie! Es ist unmöglich, hier ... Wir ziehen uns zurück, wir treten dort drüben ein. Ich mache Ihnen Eröffnungen, welche ... Kommen Sie!“ Und sich umwendend, zog er Hans Castorp fort aus dem Vestibül, in das erste, dem Portal am nächsten gelegene der Gesellschaftszimmer, das als Schreib- und Leseraum eingerichtet und jetzt leer von Gästen war. Es zeigte eichene Wandtäfelungen unter seinem hellen Gewölbe, Bücherschränke, einen von Stühlen umgebenen, mit gerahmten Zeitungen belegten Tisch in der Mitte und Schreibgelegenheiten unter den Bögen der Fensternischen. Herr Settembrini schritt bis in die Nähe eines der Fenster vor, Hans Castorp folgte ihm. Die Tür blieb offen.

„Diese Papiere,“ sagte der Italiener, indem er aus der beutelartigen Seitentasche seines Flauses mit fliegender Hand ein Konvolut, ein umfangreiches, schon geöffnetes Briefkuvert zog und seinen Inhalt, verschiedene Drucksachen nebst einem Schreiben, vor Hans Castorps Augen durch die Finger gleiten ließ, „diese Papiere tragen in französischer Sprache den Aufdruck: ‚Internationaler Bund für Organisierung des Fortschritts.‘ Man sendet sie mir aus Lugano, wo sich ein Filialbureau des Bundes befindet. Sie fragen mich nach seinen Grundsätzen, seinen Zielen? Ich gebe sie Ihnen in zwei Worten. Die Liga für Organisierung des Fortschritts leitet aus der Entwicklungslehre Darwins die philosophische Anschauung ab, daß der innerste Naturberuf der Menschheit ihre Selbstvervollkommnung ist. Sie folgert daraus weiter, daß es Pflicht eines jeden ist, der seinem Naturberuf genügen will, am Menschheitsfortschritt tätig mitzuarbeiten. Viele sind ihrem Rufe gefolgt; die Zahl ihrer Mitglieder in Frankreich, Italien, Spanien, der Türkei und selbst in Deutschland ist bedeutend. Auch ich habe die Ehre, in den Bundesregistern geführt zu werden. Ein wissenschaftlich ausgearbeitetes Reformprogramm großen Stils ist entworfen, das alle augenblicklichen Vervollkommnungsmöglichkeiten des menschlichen Organismus umfaßt. Das Problem der Gesundheit unserer Rasse wird studiert, man prüft alle Methoden zur Bekämpfung der Degeneration, die ohne Zweifel eine beklagenswerte Begleiterscheinung der zunehmenden Industrialisierung ist. Ferner betreibt der Bund die Gründung von Volksuniversitäten, die Überwindung der Klassenkämpfe durch alle die sozialen Verbesserungen, die sich zu diesem Zwecke empfehlen, endlich die Beseitigung der Völkerkämpfe, des Krieges durch die Entwicklung des internationalen Rechts. Sie sehen, die Anstrengungen der Liga sind hochherzig und umfassend. Mehrere internationale Zeitschriften zeugen von ihrer Tätigkeit, – Monatsrevuen, die in drei oder vier Weltsprachen höchst anregend über die fortschrittliche Entwicklung der Kulturmenschheit berichten. Zahlreiche Ortsgruppen sind in den verschiedenen Ländern gegründet worden, die durch Diskussionsabende und Sonntagsfeiern im Sinne des menschlichen Fortschrittsideals aufklärend und erbaulich wirken sollen. Vor allem beeifert sich der Bund, den politischen Fortschrittsparteien aller Länder mit seinem Material zur Hand zu gehen ... Sie folgen meinen Worten, Ingenieur?“

„Absolut!“ antwortete Hans Castorp heftig und überstürzt. Er hatte bei diesem Wort das Gefühl eines Menschen, der ausgleitet und sich eben noch glücklich auf den Füßen hält.

Herr Settembrini schien befriedigt.

„Ich nehme an, es sind neue, überraschende Einblicke, die Sie da tun?“

„Ja, ich muß gestehen, es ist das erste, was ich über diese ... diese Anstrengungen höre.“

„Hätten Sie nur,“ rief Settembrini leise, „hätten Sie nur früher davon gehört! Aber vielleicht hören Sie noch nicht zu spät davon. Nun, diese Druckschriften ... Sie wollen wissen, was sie behandeln ... Hören Sie weiter! Im Frühjahr war eine feierliche Hauptversammlung des Bundes nach Barcelona einberufen, – Sie wissen, daß diese Stadt sich besonderer Beziehungen zur politischen Fortschrittsidee rühmen kann. Der Kongreß tagte eine Woche lang unter Banketten und Festlichkeiten. Guter Gott, ich wollte hinreisen, es verlangte mich sehnlichst, an den Beratungen teilzunehmen. Aber dieser Schuft von Hofrat verbot es mir unter Todesdrohungen, – und, was wollen Sie, ich fürchtete den Tod und reiste nicht. Ich war verzweifelt, wie Sie sich denken können, über den Streich, den meine unzulängliche Gesundheit mir spielte. Nichts ist schmerzhafter, als wenn unser organisches, unser tierisches Teil uns hindert, der Vernunft zu dienen. Desto lebhafter ist meine Befriedigung über diese Zuschrift des Bureaus von Lugano ... Sie sind neugierig auf ihren Inhalt? Das glaube ich gern! Ein paar flüchtige Informationen ... Der ‚Bund zur Organisierung des Fortschritts‘, eingedenk der Wahrheit, daß seine Aufgabe darin besteht, das Glück der Menschheit herbeizuführen, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig auszumerzen, – eingedenk ferner der Wahrheit, daß diese höchste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelöst werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, – der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbändigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel ‚Soziologie der Leiden‘ führen wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschöpfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: was nützen Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man muß das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausführen und sie zur Phase zielbewußter Tätigkeit leiten. Man muß sie darüber aufklären, daß Wirkungen hinfällig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der ‚Soziologischen Pathologie‘. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidensursachen angezeigt scheinen. Berufene Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schönen Geist will dieses große Werk nicht vernachlässigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung, eine Zusammenstellung und kurzgefaßte Analyse aller für jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und – dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut.“

„Was Sie sagen, Herr Settembrini! Da erlauben Sie mir aber, Sie herzlich zu beglückwünschen! Das ist ja ein großartiger Auftrag und ganz wie für Sie gemacht, wie mir scheint. Es wundert mich keinen Augenblick, daß die Liga an Sie gedacht hat. Und wie muß es Sie freuen, daß Sie da nun behilflich sein können, die menschlichen Leiden auszumerzen!“

„Es ist eine weitläufige Arbeit,“ sagte Herr Settembrini sinnend, „zu der viel Umsicht und Lektüre erforderlich ist. Zumal,“ fügte er hinzu, während sein Blick sich in der Vielfältigkeit seiner Aufgabe zu verlieren schien, „zumal in der Tat der schöne Geist sich fast regelmäßig das Leiden zum Gegenstande gesetzt hat und selbst Meisterwerke zweiten und dritten Ranges sich irgendwie damit beschäftigen. Gleichviel oder desto besser! So umfassend die Aufgabe immer sein möge, auf jeden Fall ist sie von der Art, daß ich mich ihrer zur Not auch an diesem verfluchten Aufenthalt entledigen kann, obgleich ich nicht hoffen will, daß ich gezwungen sein werde, sie hier zu beenden. Man kann dasselbe,“ fuhr er fort, indem er wieder näher an Hans Castorp herantrat und die Stimme beinahe zum Flüstern dämpfte, „man kann dasselbe von den Pflichten nicht sagen, die Ihnen die Natur auferlegt, Ingenieur! Das ist es, worauf ich hinauswollte, woran ich Sie mahnen wollte. Sie wissen, wie sehr ich Ihren Beruf bewundere, aber da er ein praktischer, kein geistiger Beruf ist, so können Sie ihm, anders als ich, nur in der Welt drunten nachkommen. Nur im Tiefland können Sie Europäer sein, das Leiden auf Ihre Art aktiv bekämpfen, den Fortschritt fördern, die Zeit nutzen. Ich habe Ihnen von der mir zugefallenen Aufgabe nur erzählt, um Sie zu erinnern, um Sie zu sich zu bringen, um Ihre Begriffe richtigzustellen, die sich offenbar unter atmosphärischen Einflüssen zu verwirren beginnen. Ich dringe in Sie: Halten Sie auf sich! Seien Sie stolz und verlieren Sie sich nicht an das Fremde! Meiden Sie diesen Sumpf, dies Eiland der Kirke, auf dem ungestraft zu hausen Sie nicht Odysseus genug sind. Sie werden auf allen Vieren gehen, Sie neigen sich schon auf Ihre vorderen Extremitäten, bald werden Sie zu grunzen beginnen, – hüten Sie sich!“

Der Humanist hatte bei seinen leisen Ermahnungen den Kopf eindringlich geschüttelt. Er schwieg mit niedergeschlagenen Augen und zusammengezogenen Brauen. Es war unmöglich, ihm scherzhaft und ausweichend zu antworten, wie Hans Castorp es zu tun gewohnt war und wie er es auch jetzt einen Augenblick als Möglichkeit erwog. Auch er stand mit gesenkten Lidern. Dann hob er die Schultern und sagte ebenso leise:

„Was soll ich tun?“

„Was ich Ihnen sagte.“

„Das heißt: abreisen?“

Herr Settembrini schwieg.

„Wollen Sie sagen, daß ich nach Hause reisen soll?“

„Das habe ich Ihnen gleich am ersten Abend geraten, Ingenieur.“

„Ja, und damals war ich frei, es zu tun, obgleich ich es unvernünftig fand, die Flinte ins Korn zu werfen, nur weil die hiesige Luft mir ein bißchen zusetzte. Seitdem hat sich die Sachlage aber doch geändert. Seitdem hat sich diese Untersuchung ergeben, nach der Hofrat Behrens mir klipp und klar gesagt hat, es lohnte die Heimreise nicht, in kurzem müßte ich doch wieder antreten, und wenn ich’s da unten so weitertriebe, so ginge mir, was hast du, was kannst du, der ganze Lungenlappen zum Teufel.“

„Ich weiß, jetzt haben Sie Ihren Ausweis in der Tasche.“

„Ja, das sagen Sie so ironisch ... mit der richtigen Ironie natürlich, die keinen Augenblick mißverständlich ist, sondern ein gerades und klassisches Mittel der Redekunst, – Sie sehen, ich merke mir Ihre Worte. Aber können Sie es denn verantworten, mir auf diese Photographie hin und nach dem Ergebnis der Durchleuchtung und nach der Diagnose des Hofrats die Heimreise anzuraten?“

Herr Settembrini zögerte einen Augenblick. Dann richtete er sich auf, schlug auch die Augen auf, die er fest und schwarz auf Hans Castorp richtete, und erwiderte mit einer Betonung, die des theatralischen und effekthaften Einschlages nicht entbehrte:

„Ja, Ingenieur. Ich will es verantworten.“

Aber auch Hans Castorps Haltung hatte sich nun gestrafft. Er hielt die Absätze geschlossen und sah Herrn Settembrini ebenfalls gerade an. Diesmal war es ein Gefecht. Hans Castorp stand seinen Mann. Einflüsse aus der Nähe „stärkten“ ihn. Da war ein Pädagog, und dort draußen war eine schmaläugige Frau. Er entschuldigte sich nicht einmal für das, was er sagte; er fügte nicht hinzu: „Nehmen Sie es mir nicht übel.“ Er antwortete:

„Dann sind Sie vorsichtiger für sich als für andere Leute! Sie sind nicht gegen ärztliches Verbot nach Barcelona zum Fortschrittskongreß gereist. Sie fürchteten den Tod und blieben hier.“

Bis zu einem gewissen Grade war dadurch Herrn Settembrinis Pose unzweifelhaft zerstört. Er lächelte nicht ganz mühelos und sagte:

„Ich weiß eine schlagfertige Antwort zu schätzen, selbst wenn Ihre Logik der Sophisterei nicht fern ist. Es ekelt mich, in einem hier üblichen abscheulichen Wettstreit zu konkurrieren, sonst würde ich Ihnen erwidern, daß ich bedeutend kränker bin als Sie, – leider in der Tat so krank, daß ich die Hoffnung, diesen Ort je wieder verlassen und in die untere Welt zurückkehren zu können, nur künstlicher- und ein wenig selbstbetrügerischerweise hinfriste. In dem Augenblick, wo es sich als völlig unanständig erweisen wird, sie aufrechtzuhalten, werde ich dieser Anstalt den Rücken kehren und für den Rest meiner Tage irgendwo im Tal ein Privatlogis beziehen. Das wird traurig sein, aber da meine Arbeitssphäre die freieste und geistigste ist, wird es mich nicht hindern, bis zu meinem letzten Atemzuge der Sache der Menschheit zu dienen und dem Geist der Krankheit die Stirn zu bieten. Ich habe Sie auf den Unterschied, der in dieser Beziehung zwischen uns besteht, bereits aufmerksam gemacht. Ingenieur, Sie sind nicht der Mann, Ihr besseres Wesen hier zu behaupten, das sah ich bei unserer ersten Begegnung. Sie halten mir vor, ich sei nicht nach Barcelona gereist. Ich habe mich dem Verbot unterworfen, um mich nicht vorzeitig zu zerstören. Aber ich tat es unter dem stärksten Vorbehalt, unter dem stolzesten und schmerzlichsten Protest meines Geistes gegen das Diktat meines armseligen Körpers. Ob dieser Protest auch in Ihnen lebendig ist, indem Sie den Vorschriften der hiesigen Mächte Folge leisten, – ob es nicht vielmehr der Körper ist und sein böser Hang, dem Sie nur zu bereitwillig gehorchen ...“

„Was haben Sie gegen den Körper?“ unterbrach Hans Castorp ihn rasch und blickte ihn groß an mit seinen blauen Augen, deren Weißes von roten Adern durchzogen war. Ihm schwindelte vor seiner Tollkühnheit, und man sah es ihm an. „Wovon spreche ich?“ dachte er. „Es wird ungeheuerlich. Aber ich habe mich einmal auf Kriegsfuß mit ihm gestellt und werde ihm, so lange es irgend geht, das letzte Wort nicht lassen. Natürlich wird er es haben, aber das macht nichts, ich werde immerhin dabei profitieren. Ich werde ihn reizen.“ Er ergänzte seinen Einwand:

„Sie sind doch Humanist? Wie können Sie schlecht auf den Körper zu sprechen sein?“

Settembrini lächelte, diesmal ungezwungen und selbstgewiß.

„‚Was haben Sie gegen die Analyse?‘“ zitierte er, den Kopf auf der Schulter. „‚Sind Sie schlecht auf die Analyse zu sprechen?‘ – Sie werden mich immer bereit finden, Ihnen Rede zu stehen, Ingenieur,“ sagte er mit Verbeugung und einer salutierenden Handbewegung gegen den Fußboden, „besonders wenn Ihre Einwendungen Geist haben. Sie parieren nicht ohne Eleganz. Humanist, – gewiß, ich bin es. Asketischer Neigungen werden Sie mich niemals überführen. Ich bejahe, ich ehre und liebe den Körper, wie ich die Form, die Schönheit, die Freiheit, die Heiterkeit und den Genuß bejahe, ehre und liebe, – wie ich die ‚Welt‘, die Interessen des Lebens vertrete gegen sentimentale Weltflucht, – den Classicismo gegen die Romantik. Ich denke, meine Stellungnahme ist eindeutig. Eine Macht, ein Prinzip aber gibt es, dem meine höchste Bejahung, meine höchste und letzte Ehrerbietung und Liebe gilt, und diese Macht, dieses Prinzip ist der Geist. Wie sehr ich es verabscheue, irgendein verdächtiges Mondscheingespinst und -gespenst, das man ‚die Seele‘ nennt, gegen den Leib ausgespielt zu sehen, – innerhalb der Antithese von Körper und Geist bedeutet der Körper das böse, das teuflische Prinzip, denn der Körper ist Natur, und die Natur – innerhalb ihres Gegensatzes zum Geiste, zur Vernunft, ich wiederhole das! – ist böse, – mystisch und böse. ‚Sie sind Humanist!‘ Allerdings bin ich es, denn ich bin ein Freund des Menschen, wie Prometheus es war, ein Liebhaber der Menschheit und ihres Adels. Dieser Adel aber ist beschlossen im Geiste, in der Vernunft, und darum werden Sie ganz vergebens den Vorwurf des christlichen Obskurantismus erheben ...“

Hans Castorp wehrte ab.

„... Sie werden,“ beharrte Settembrini, „diesen Vorwurf ganz vergebens erheben, wenn humanistischer Adelsstolz die Gebundenheit des Geistes an das Körperliche, an die Natur eines Tages als Erniedrigung, als Schimpf empfinden lernt. Wissen Sie, daß von dem großen Plotinus die Äußerung überliefert ist, er schäme sich, einen Körper zu haben?“ fragte Settembrini und verlangte so ernstlich eine Antwort, daß Hans Castorp genötigt war, zu gestehen, das sei das erste, was er höre.

„Porphyrius überliefert es. Eine absurde Äußerung, wenn Sie wollen. Aber das Absurde, das ist das geistig Ehrenhafte, und nichts kann im Grunde ärmlicher sein, als der Einwand der Absurdität, dort, wo der Geist gegen die Natur seine Würde behaupten will, sich weigert, vor ihr abzudanken ... Haben Sie von dem Erdbeben zu Lissabon gehört?“

„Nein, – ein Erdbeben? Ich sehe hier keine Zeitungen ...“

„Sie mißverstehen mich. Nebenbei bemerkt, ist es bedauerlich – und kennzeichnend für diesen Ort, – daß Sie es hier versäumen, die Presse zu lesen. Aber Sie mißverstehen mich, das Naturereignis, von dem ich spreche, ist nicht aktuell, es fand vor beiläufig hundertundfünfzig Jahren statt ...“

„Ja so! Oh, warten Sie, – richtig! Ich habe gelesen, daß Goethe damals nachts in Weimar in seinem Schlafzimmer zu seinem Diener sagte ...“

„Ah, – nicht davon wollte ich reden“, unterbrach ihn Settembrini, indem er die Augen schloß und seine kleine braune Hand in der Luft schüttelte. „Übrigens vermengen Sie die Katastrophen. Sie haben das Erdbeben von Messina im Sinn. Ich meine die Erschütterung, die Lissabon heimsuchte, im Jahre 1755.“

„Entschuldigen Sie.“

„Nun, Voltaire empörte sich dagegen.“

„Das heißt ... wie? Er empörte sich?“

„Er revoltierte, ja. Er nahm das brutale Fatum und Faktum nicht hin, er weigerte sich, davor abzudanken. Er protestierte im Namen des Geistes und der Vernunft gegen diesen skandalösen Unfug der Natur, dem drei Viertel einer blühenden Stadt und Tausende von Menschenleben zum Opfer fielen ... Sie staunen? Sie lächeln? Mögen Sie immerhin staunen, was das Lächeln betrifft, so nehme ich mir die Freiheit, es Ihnen zu verweisen! Voltaires Haltung war die eines echten Nachkömmlings jener alten Gallier, die ihre Pfeile gegen den Himmel schleuderten ... Sehen Sie, Ingenieur, da haben Sie die Feindschaft des Geistes gegen die Natur, sein stolzes Mißtrauen gegen sie, sein hochherziges Bestehen auf dem Rechte zur Kritik an ihr und ihrer bösen, vernunftwidrigen Macht. Denn sie ist die Macht, und es ist knechtisch, die Macht hinzunehmen, sich mit ihr abzufinden ... wohlgemerkt, sich innerlich mit ihr abzufinden. Da haben Sie aber auch jene Humanität, die sich schlechterdings in keinen Widerspruch verstrickt, sich keines Rückfalls in christliche Duckmäuserei schuldig macht, wenn sie im Körper das böse, das widersacherische Prinzip zu erblicken sich entschließt. Der Widerspruch, den Sie zu sehen meinen, ist im Grunde immer derselbe. ‚Was haben Sie gegen die Analyse?‘ Nichts ... wenn sie Sache der Belehrung, der Befreiung und des Fortschritts ist. Alles ... wenn ihr der scheußliche haut-goût des Grabes anhaftet. Es ist mit dem Körper nicht anders. Man muß ihn ehren und verteidigen, wenn es sich um seine Emanzipation und Schönheit handelt, um die Freiheit der Sinne, um Glück, um Lust. Man muß ihn verachten, sofern er als Prinzip der Schwere und der Trägheit sich der Bewegung zum Lichte entgegensetzt, ihn verabscheuen, sofern er gar das Prinzip der Krankheit und des Todes vertritt, sofern sein spezifischer Geist der Geist der Verkehrtheit ist, der Geist der Verwesung, der Wollust und der Schande ...“

Settembrini hatte die letzten Worte, dicht vor Hans Castorp stehend, fast ohne Ton und sehr rasch gesprochen, um fertig zu werden. Entsatz näherte sich für Hans Castorp: Joachim betrat, zwei Postkarten in der Hand, das Lesezimmer, die Rede des Literaten brach ab, und die Gewandtheit, mit der sein Ausdruck ins gesellschaftlich Leichte hinüberwechselte, verfehlte nicht ihren Eindruck auf seinen Schüler, – wenn man Hans Castorp so nennen konnte.

„Da sind Sie, Leutnant! Sie werden Ihren Vetter gesucht haben, – verzeihen Sie! Wir waren da in ein Gespräch geraten, – wenn mir recht ist, hatten wir sogar einen kleinen Zwist. Er ist kein übler Räsonneur, Ihr Vetter, ein durchaus nicht ungefährlicher Gegner im Wortstreit, wenn es ihm darauf ankommt.“