Der Zauberberg. Erster Band

„Mein Gott, ich sehe!“

Es dauerte eine Woche, bis Hans Castorp durch die Oberin von Mylendonk ins Durchleuchtungslaboratorium bestellt wurde. Er mochte nicht drängen. Man war beschäftigt im Hause „Berghof“, offenbar hatten Ärzte und Personal alle Hände voll zu tun. Neue Gäste waren in den letzten Tagen angelangt: zwei russische Studenten mit dickem Haar und geschlossenen schwarzen Blusen, die keinen Schimmer von Wäsche sehen ließen; ein holländisches Ehepaar, dem an Settembrinis Tische Plätze angewiesen wurden; ein buckliger Mexikaner, der die Tischgesellschaft durch furchtbare Anfälle von Atemnot in Schrecken setzte: er klammerte sich dabei mit ehernem Griff seiner langen Hände an seine Nachbarn, ob Herr oder Dame, hielt fest wie ein Schraubstock und zog die entsetzt Widerstrebenden, um Hilfe Rufenden so in seine Ängste hinein. Kurzum, der Speisesaal war beinahe voll besetzt, obgleich die Wintersaison erst mit dem Oktober begann. Und die Schwere von Hans Castorps Fall, sein Krankheitsgrad, gab ihm kaum ein Recht, besonderen Anspruch auf Beachtung zu erheben. Frau Stöhr etwa war in all ihrer Dummheit und Unbildung ohne Zweifel viel kränker als er, von Dr. Blumenkohl ganz zu schweigen. Man hätte jedes Sinnes für Rangordnung und Abstand entbehren müssen, um in Hans Castorps Fall nicht bescheidene Zurückhaltung zu üben, – besonders da eine solche Gesinnung zum Geiste des Hauses gehörte. Leichtkranke galten nicht viel, er hatte es öfters aus den Gesprächen herausgehört. Man sprach mit Geringschätzung von ihnen, nach dem hierorts geltenden Maßstab, sie wurden über die Achsel angesehen, und zwar nicht allein von den Höher- und Hochgradigen, sondern auch von solchen, die selbst nur „leicht“ waren: womit diese freilich Geringschätzung auch ihrerselbst an den Tag legten, aber eine höhere Selbstachtung retteten, indem sie dem Maßstab sich unterwarfen. So ist es menschlich. „Ach, der!“ konnten sie wohl voneinander sagen, „dem fehlt eigentlich nichts, kaum daß er das Recht hat, hier zu sein. Nicht mal eine Kaverne hat er ...“ Dies war der Geist; er war aristokratisch in seinem besonderen Sinn, und Hans Castorp salutierte ihn aus angeborener Achtung vor Gesetz und Ordnung jeder Art. Ländlich, sittlich, heißt es. Reisende zeigen sich wenig gebildet, wenn sie über die Sitten und Werte ihrer Wirtsvölker sich lustig machen, und der Eigenschaften, die Ehre schaffen, gibt es diese und jene. Sogar gegen Joachim selbst beobachtete Hans Castorp eine gewisse Ehrerbietung und Rücksicht, – nicht sowohl, weil dieser der länger Eingesessene war und sein Anleiter und Cicerone in dieser Welt –, sondern namentlich, weil er der zweifellos „Schwerere“ war. Da aber alles so lag, war es begreiflich, daß man dazu neigte, aus seinem Falle das Mögliche zu machen und in Hinsicht auf ihn auch wohl zu übertreiben, um zur Aristokratie zu gehören oder ihr näher zu kommen. Auch Hans Castorp, wenn er bei Tische gefragt wurde, nannte wohl ein paar Striche mehr, als er in Wahrheit gemessen, und konnte unmöglich umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, wenn man ihm mit dem Finger drohte, wie einem, der es faustdick hinter den Ohren hat. Aber auch, wenn er ein wenig auftrug, blieb er immer noch, eigentlich gesprochen, eine Person von geringen Graden, und so waren Geduld und Zurückhaltung denn sicherlich das ihm zukommende Betragen.

Er hatte die Lebensweise seiner ersten drei Wochen, dies schon vertraute, gleichmäßige und genau geregelte Leben an Joachims Seite wieder aufgenommen, und es ging wie am Schnürchen vom ersten Tage an, als sei es nie unterbrochen worden. In der Tat war diese Unterbrechung nichtig gewesen; er bekam es gleich gelegentlich seines ersten Wiedererscheinens bei Tische deutlich zu spüren. Zwar hatte Joachim, der auf solche Markierungen ein ganz bestimmtes und geflissentliches Gewicht legte, Sorge getragen, daß ein paar Blumen den Platz des Erstandenen schmückten. Aber die Begrüßung durch die Tischgenossen war wenig festlich, unterschied sich von früheren, denen eine Trennung nicht von drei Wochen, sondern von drei Stunden vorangegangen war, nur unwesentlich: weniger aus Gleichgültigkeit gegen seine einfache und sympathische Person und weil diese Leute allzusehr mit sich selbst, das heißt: mit ihrem interessanten Körper beschäftigt waren, als darum, weil ihnen die Zwischenzeit nicht bewußt geworden war. Und Hans Castorp konnte ihnen darin ohne Schwierigkeit folgen, denn er selbst saß an seinem Platz am Tischende, zwischen der Lehrerin und Miß Robinson, nicht anders, als habe er spätestens gestern zuletzt hier gesessen.

Wenn man aber am Tische selbst von der Beendigung seiner Zurückgezogenheit nicht viel Aufhebens gemacht hatte, – wie hätte man im weiteren Saal welches davon machen sollen? Dort hatte buchstäblich niemand auch nur Notiz davon genommen, – mit alleiniger Ausnahme Settembrinis, der nach Schluß der Mahlzeit zu spaßhaft-freundschaftlicher Begrüßung herangekommen war. Hans Castorp hätte freilich noch eine weitere Einschränkung gemacht, deren Berechtigung wir dahinstellen müssen. Er behauptete bei sich, daß Clawdia Chauchat sein Wiedererscheinen bemerkt –, gleich bei ihrem, wie immer, verspäteten Eintreten, nach dem Zufallen der Glastür, ihren schmalen Blick habe auf ihm ruhen lassen, dem er mit seinem begegnet war, und kaum, daß sie sich niedergesetzt, noch einmal über die Schulter sich lächelnd nach ihm umgesehen habe: lächelnd, wie vor drei Wochen, bevor er zur Untersuchung gegangen. Und eine so unverhohlene und rücksichtslose Bewegung war das gewesen – rücksichtslos in betreff seinerselbst wie auch der übrigen Gästeschaft –, daß er nicht gewußt hatte, ob er sich darüber entzücken oder es als ein Zeichen von Geringschätzung verstehen und sich darüber ärgern sollte. Auf jeden Fall hatte sein Herz sich zusammengekrampft unter diesen Blicken, welche die zwischen der Kranken und ihm obwaltende gesellschaftliche Unbekanntschaft auf eine in seinen Augen ungeheuerliche und berauschende Weise verleugnet und Lügen gestraft hatte, – sich fast schmerzhaft zusammengekrampft schon, als die Glastür klirrte, denn auf diesen Augenblick hatte er mit kurz gehendem Atem gewartet.

Es will nachgetragen sein, daß Hans Castorps innere Beziehungen zu der Patientin vom Guten Russentisch, die Teilnahme seiner Sinne und seines bescheidenen Geistes an ihrer mittelgroßen, weich schleichenden, kirgisenäugigen Person, kurzum seine Verliebtheit (das Wort habe Statt, obgleich es ein Wort von „unten“, ein Wort der Ebene ist und die Vorstellung erwecken könnte, als sei das Liedchen „Wie berührt mich wundersam“ hier irgendwie anwendbar gewesen) – während seiner Zurückgezogenheit sehr starke Fortschritte gemacht hatte. Ihr Bild hatte ihm vorgeschwebt, wenn er, frühwach, in das sich zögernd entschleiernde Zimmer, oder, am Abend, in die dichter werdende Dämmerung geblickt hatte (auch zu jener Stunde, als Settembrini unter plötzlichem Aufflammen des Lichtes bei ihm eingetreten war, hatte es ihm überaus deutlich vorgeschwebt, und dies war der Grund gewesen, weshalb er bei dem Anblick des Humanisten errötet war); an ihren Mund, ihre Wangenknochen, ihre Augen, deren Farbe, Form, Stellung ihm in die Seele schnitt, ihren schlaffen Rücken, ihre Kopfhaltung, den Halswirbel im Nackenausschnitt ihrer Bluse, ihre von dünnster Gaze verklärten Arme hatte er gedacht während der einzelnen Stunden des zerkleinerten Tages, – und wenn wir verschwiegen, daß dies das Mittel gewesen, wodurch ihm die Stunden so mühelos vergingen, so geschah es, weil wir sympathisch teilnehmen an der Gewissensunruhe, die sich in das erschreckende Glück dieser Bilder und Gesichte mischte. Ja, es war Schreck, Erschütterung damit verbunden, eine ins Unbestimmte, Unbegrenzte und vollständig Abenteuerliche ausschweifende Hoffnung, Freude und Angst, die namenlos war, aber des jungen Mannes Herz – sein Herz im eigentlichen und körperlichen Sinn – zuweilen so jäh zusammenpreßte, daß er die eine Hand in die Gegend dieses Organs, die andere aber zur Stirn führte (sie wie einen Schirm über die Augen legte) und flüsterte:

„Mein Gott!“

Denn hinter der Stirn waren Gedanken oder Halbgedanken, die den Bildern und Gesichten ihre zu weit gehende Süßigkeit eigentlich erst verliehen, und die sich auf Madame Chauchats Nachlässigkeit und Rücksichtslosigkeit bezogen, auf ihr Kranksein, die Steigerung und Betonung ihres Körpers durch die Krankheit, die Verkörperlichung ihres Wesens durch die Krankheit, an der er, Hans Castorp, laut ärztlichen Spruches nun teilhaben sollte. Er begriff hinter seiner Stirn die abenteuerliche Freiheit, mit der Frau Chauchat durch ihr Umblicken und Lächeln die zwischen ihnen bestehende gesellschaftliche Unbekanntschaft außer acht ließ, so, als seien sie überhaupt keine gesellschaftlichen Wesen und als sei es nicht einmal nötig, daß sie miteinander sprächen ... und ebendies war es, worüber er erschrak: in demselben Sinne erschrak wie damals im Untersuchungszimmer, als er von Joachims Oberkörper eilig suchend zu seinen Augen emporgeblickt hatte, – mit dem Unterschiede, daß damals Mitleid und Sorge die Gründe seines Erschreckens gewesen, hier aber ganz anderes im Spiele war.

Nun also ging das Berghof-Leben, dies gunstreiche und wohlgeregelte Leben auf engem Schauplatz wieder seinen gleichmäßigen Gang, – Hans Castorp, in Erwartung der Innenaufnahme, fuhr fort, es mit dem guten Joachim zu teilen, indem er es Stunde für Stunde genau so trieb wie dieser; und diese Nachbarschaft war wohl gut für den jungen Mann. Denn obgleich es nur eine Krankennachbarschaft war, so war viel militärische Ehrbarkeit darin: eine Ehrbarkeit, die freilich, ohne es gewahr zu werden, schon im Begriffe stand, im Kurdienste Genüge zu finden, so daß dieser gleichsam zum Ersatzmittel tiefländischer Pflichterfüllung und zum untergeschobenen Berufe wurde, – Hans Castorp war nicht so dumm, es nicht ganz genau zu bemerken. Doch aber fühlte er wohl ihre zügelnde, zurückhaltende Wirkung auf sein zivilistisches Gemüt, – sogar mochte es diese Nachbarschaft sein, ihr Beispiel und die Beaufsichtigung durch sie, was ihn von äußeren Schritten und blinden Unternehmungen zurückhielt. Denn er sah wohl, was der brave Joachim von einer gewissen, täglich auf ihn eindringenden Apfelsinenatmosphäre, worin es runde braune Augen, einen kleinen Rubin, viel schwach gerechtfertigte Lachlust und eine äußerlich wohlgebildete Brust gab, auszustehen hatte, und die Vernunft und Ehrliebe, mit der Joachim den Einfluß dieser Atmosphäre scheute und floh, ergriff Hans Castorp, hielt ihn selbst in einiger Zucht und Ordnung und hinderte ihn, sich von der Schmaläugigen sozusagen „einen Bleistift zu leihen“, – wozu er ohne die disziplinierende Nachbarschaft aller Erfahrung nach sehr bereitgewesen wäre.

Joachim sprach niemals von der lachlustigen Marusja, und so verbot es sich auch für Hans Castorp, mit ihm von Clawdia Chauchat zu sprechen. Er hielt sich schadlos durch verstohlenen Austausch mit der Lehrerin zu seiner Rechten bei Tische, wobei er das alte Mädchen durch Neckereien mit ihrer Schwäche für die schmiegsame Kranke zum Erröten brachte und unterdessen die Kinn- und Würdenstütze des alten Castorp nachahmte. Auch drang er in sie, über Madame Chauchats persönliche Verhältnisse, über ihre Herkunft, ihren Mann, ihr Alter, die Art ihres Krankheitsfalles Neues und Wissenswertes in Erfahrung zu bringen. Ob sie denn Kinder habe, wollte er wissen. – Aber nein doch, sie hatte keine. Was sollte eine Frau wie sie wohl mit Kindern beginnen? Wahrscheinlich war es ihr streng untersagt, welche zu haben – und andererseits: was würden denn das auch wohl für Kinder sein? Hans Castorp mußte dem beipflichten. Nachgerade sei es auch wohl zu spät dafür, vermutete er mit gewaltsamer Sachlichkeit. Zuweilen, im Profil, scheine Madame Chauchats Gesicht ihm fast schon ein wenig scharf. Ob sie wohl über dreißig sei? – Fräulein Engelhart widersprach heftig. Clawdia dreißig? Allerschlimmstenfalls sei sie achtundzwanzig. Und was das Profil betraf, so verbot sie ihrem Tischnachbar, so etwas zu sagen. Clawdias Profil sei von der weichsten Jugendlichkeit und Süße, wenn es natürlich auch ein interessantes Profil sei und nicht das irgendeiner gesunden Gans. Und zur Strafe fügte Fräulein Engelhart ohne Pause hinzu, sie wisse, daß Frau Chauchat öfters Herrenbesuch empfange, den Besuch eines in „Platz“ wohnenden Landsmannes: sie empfange ihn nachmittags auf ihrem Zimmer.

Das war gut gezielt. Hans Castorps Gesicht verzerrte sich gegen alle Bemühung, und auch die auf „Was nicht gar“ und „Sehe einer an“ gestimmten Redensarten, mit denen er die Eröffnung zu behandeln versuchte, waren verzerrt. Unfähig, das Vorhandensein dieses Landsmannes auf die leichte Achsel zu nehmen, wie er sich anfangs den Anschein hatte geben wollen, kam er mit zuckenden Lippen beständig auf ihn zurück. Ein jüngerer Mann? – Jung und ansehnlich, nach allem, was sie höre, erwiderte die Lehrerin; denn nach eigenem Augenschein konnte sie nicht urteilen. – Krank? – Höchstens leichtkrank! – Er wolle hoffen, sagte Hans Castorp höhnisch, daß mehr Wäsche an ihm zu sehen sei als bei den Landsleuten am Schlechten Russentisch, – wofür die Engelhart, noch immer zur Strafe, einstehen zu wollen erklärte. Da gab er zu, es sei eine Angelegenheit, um die man sich kümmern müsse, und beauftragte sie ernstlich, in Erfahrung zu bringen, was es mit diesem aus und ein gehenden Landsmann auf sich habe. Statt ihm aber Nachrichten hierüber zu bringen, wußte sie einige Tage später etwas völlig Neues.

Sie wußte, daß Clawdia Chauchat gemalt werde, porträtiert – und fragte Hans Castorp, ob er es auch wisse. Wenn nicht, so könne er trotzdem überzeugt davon sein, sie habe es aus sicherster Quelle. Seit längerem sitze sie hier im Hause jemandem Modell zu ihrem Bildnis – und zwar wem? Dem Hofrat! Herrn Hofrat Behrens, der sie zu diesem Zweck beinahe täglich in seiner Privatwohnung bei sich sehe.

Diese Kunde ergriff Hans Castorp noch mehr als die vorige. Er machte fortan viele verzerrte Späße darüber. Nun, gewiß, es sei ja bekannt, daß der Hofrat in Öl male, – was die Lehrerin denn wolle, das sei nicht verboten, und so stehe es jedermann frei. In des Hofrats Witwerheim also? Hoffentlich sei wenigstens Fräulein von Mylendonk bei den Sitzungen anwesend. – Die habe wohl keine Zeit. – „Mehr Zeit als die Oberin sollte auch Behrens nicht haben“, sagte Hans Castorp streng. Aber obgleich damit etwas Endgültiges über die Sache gesagt schien, war er weit entfernt, sie fallen zu lassen, sondern erschöpfte sich in Fragen nach Näherem und Weiterem: über das Bild, sein Format und ob es ein Kopf- oder Kniestück sei; auch über die Stunde der Sitzungen, – während doch Fräulein Engelhart mit Einzelheiten auch hier nicht dienen konnte und ihn auf die Ergebnisse weiterer Nachforschungen vertrösten mußte.

Hans Castorp maß 37,7 nach dem Empfang dieser Nachricht. Weit mehr noch, als die Besuche, die Frau Chauchat empfing, schmerzten und beunruhigten ihn diejenigen, die sie machte. Frau Chauchats Privat- und Eigenleben als solches an und für sich und schon unabhängig von seinem Inhalt hatte angefangen, ihm Schmerz und Unruhe zu bereiten, und wie sehr mußte sich beides erst verschärfen, da ihm Mehrdeutigkeiten über diesen Inhalt zu Ohren kamen! Zwar schien es allgemein möglich, daß die Beziehungen des russischen Besuchers zu seiner Landsmännin nüchterner und harmloser Natur waren; aber Hans Castorp war seit einiger Zeit geneigt, Nüchternheit und Harmlosigkeit für Schnickschnack zu halten, – wie er sich denn auch nicht überwinden oder bereden konnte, die Ölmalerei als Beziehung zwischen einem forsch redenden Witwer und einer schmaläugig-leisetreterischen jungen Frau für etwas anderes anzusehen. Der Geschmack, den der Hofrat mit der Wahl seines Modells bekundete, entsprach zu sehr seinem eigenen, als daß er hier an Nüchternheit hätte glauben können, worin ihn die Vorstellung von des Hofrats blauen Backen und seinen rot geäderten Quellaugen denn auch nur wenig unterstützte.

Eine Wahrnehmung, die er in diesen Tagen auf eigene Hand und zufällig machte, wirkte in anderer Weise auf ihn ein, obgleich es sich abermals um eine Bestätigung seines Geschmackes handelte. Es war da am querstehenden Tische der Frau Salomon und des gefräßigen Schülers mit der Brille, links von dem der Vettern, nächst der seitlichen Glastür, ein Kranker, Mannheimer seiner Herkunft nach, wie Hans Castorp gehört hatte, etwa dreißigjährig, mit gelichtetem Haupthaar, kariösen Zähnen und einer zaghaften Redeweise, – derselbe, der zuweilen während der Abendgeselligkeit auf dem Piano spielte, und zwar meistens den Hochzeitsmarsch aus dem „Sommernachtstraum“. Er sollte sehr fromm sein, wie es begreiflicherweise nicht selten unter Denen hier oben der Fall sei, so hatte Hans Castorp sagen hören. Allsonntäglich sollte er den Gottesdienst drunten in „Platz“ besuchen und in der Liegekur andächtige Bücher lesen, Bücher mit einem Kelch oder Palmzweigen auf dem Vorderdeckel. Dieser nun, so bemerkte Hans Castorp eines Tages, hatte seine Blicke ebendort, wo er selbst sie hatte, – hing mit ihnen an Madame Chauchats schmiegsamer Person, und zwar auf eine Art, die scheu und zudringlich bis zum Hündischen war. Nachdem Hans Castorp es einmal beobachtet, konnte er nicht umhin, es wieder und wieder festzustellen. Er sah ihn abends im Spielzimmer inmitten der Gäste stehen, trübe verloren in den Anblick der lieblichen, wenn auch schadhaften Frau, die drüben im kleinen Salon auf dem Sofa saß und mit der wollhaarigen Tamara (so hieß das humoristische Mädchen), mit Dr. Blumenkohl und den konkaven und hängeschultrigen Herren ihres Tisches plauderte; sah ihn sich abwenden, sich herumdrücken und wieder langsam, mit seitlich gedrehten Augäpfeln und kläglich geschürzter Oberlippe den Kopf über die Schulter dorthin wenden. Er sah ihn sich verfärben und nicht aufblicken, dann aber dennoch aufblicken und gierig schauen, wenn die Glastür fiel und Frau Chauchat zu ihrem Platze glitt. Und mehrmals sah er, wie der Arme sich nach Tische zwischen Ausgang und Gutem Russentisch aufstellte, um Frau Chauchat an sich vorübergehen zu lassen und sie, die seiner nicht achtete, aus unmittelbarer Nähe mit Augen zu verschlingen, die bis zum Grunde mit Traurigkeit angefüllt waren.

Auch diese Entdeckung also setzte dem jungen Hans Castorp nicht wenig zu, obgleich die klägliche Schaubegier des Mannheimers ihn nicht in dem Sinne beunruhigen konnte, wie der Privatverkehr Clawdia Chauchats mit Hofrat Behrens, einem ihm an Alter, Person und Lebensstellung so übergeordneten Mann. Clawdia kümmerte sich gar nicht um den Mannheimer, – es wäre Hans Castorps innerer Geschärftheit nicht entgangen, wenn es der Fall gewesen wäre, und nicht der widrige Stachel der Eifersucht war es also in diesem Falle, den er in der Seele spürte. Aber er erprobte alle Empfindungen, die Rausch und Leidenschaft eben erproben, wenn sie in der Außenwelt ihrer selbst ansichtig werden, und die das sonderbarste Gemisch aus Ekel- und Gemeinschaftsgefühlen bilden. Unmöglich, alles zu ergründen und auseinanderzulegen, wenn wir von der Stelle kommen wollen. Auf jeden Fall war es viel auf einmal für seine Verhältnisse, was auch die Beobachtung des Mannheimers dem armen Hans Castorp zu durchkosten gab.

So vergingen die acht Tage bis zu Hans Castorps Durchleuchtung. Er hatte nicht gewußt, daß sie bis dahin vergehen würden, aber als er eines Morgens beim ersten Frühstück durch die Oberin (sie hatte schon wieder ein Gerstenkorn, es konnte nicht mehr dasselbe sein, offenbar war dies harmlose, aber entstellende Leiden in ihrer Verfassung gelegen) den Befehl erhielt, sich nachmittags im Laboratorium einzufinden, da waren sie eben vergangen. Zusammen mit seinem Vetter sollte Hans Castorp sich stellen, eine halbe Stunde vor dem Tee; denn auch von Joachim sollte bei dieser Gelegenheit wieder eine Innenansicht aufgenommen werden, – die letzte mußte schon für veraltet gelten.

So hatten sie heute die große Nachmittagsliegekur um dreißig Minuten abgekürzt, waren mit dem Schlage halb vier die steinerne Treppe in das falsche Kellergeschoß „hinab“gestiegen und saßen zusammen in dem kleinen Warteraum, der das Ordinationszimmer vom Durchleuchtungslaboratorium trennte, – Joachim, dem nichts Neues bevorstand, in guter Ruhe, Hans Castorp etwas fiebrig erwartungsvoll, da man bisher noch niemals Einblick in sein organisches Innenleben genommen. Sie waren nicht allein: mehrere Gäste hatten, zerrissene illustrierte Zeitschriften auf den Knien, schon im Zimmer gesessen, als sie eingetreten waren, und warteten mit ihnen: ein reckenhafter junger Schwede, der im Speisesaal an Settembrinis Tische saß, und von dem man sagte, er sei bei seiner Ankunft im April so krank gewesen, daß man ihn kaum habe aufnehmen wollen; nun aber habe er achtzig Pfund zugenommen und sei im Begriffe, als völlig geheilt entlassen zu werden; ferner eine Frau vom Schlechten Russentisch, eine Mutter, selbst kümmerlich, mit ihrem noch kümmerlicheren, langnäsigen und häßlichen Knaben namens Sascha. Diese Personen also warteten schon länger als die Vettern; offenbar hatten sie in der Reihenfolge der Bestellungen den Vorrang vor ihnen, Verspätung schien eingerissen nebenan im Durchleuchtungsraum, und so stand kalter Tee in Aussicht.

Im Laboratorium war man beschäftigt. Die Stimme des Hofrats war zu hören, der Anweisungen gab. Es war halb vier Uhr oder etwas darüber, als die Tür sich öffnete, – ein technischer Assistent, der hier unten tätig war, öffnete sie – und nur erst der schwedische Recke und Glückspilz eingelassen wurde: offenbar hatte man seinen Vorgänger durch einen anderen Ausgang entlassen. Die Geschäfte wickelten sich nun schneller ab. Nach zehn Minuten schon hörte man den völlig genesenen Skandinavier, diese wandelnde Empfehlung des Ortes und der Heilanstalt, sich starken Schrittes über den Korridor entfernen, und die russische Mutter nebst Sascha wurden empfangen. Wiederum, wie schon beim Eintritt des Schweden, bemerkte Hans Castorp, daß im Durchleuchtungsraum Halbdunkel, das heißt künstliches Halblicht herrschte, – gerade wie andererseits in Dr. Krokowskis analytischem Kabinett. Die Fenster waren verhüllt, das Tageslicht abgesperrt, und ein paar elektrische Lampen brannten. Während man aber Sascha und seine Mutter einließ und Hans Castorp ihnen nachblickte, – gleichzeitig also hiermit ging die Korridortür auf, und der nächstbestellte Patient betrat den Warteraum, verfrüht, da Verspätung obwaltete, es war Madame Chauchat.

Es war Clawdia Chauchat, die sich plötzlich im Zimmerchen befand; Hans Castorp erkannte sie mit aufgerissenen Augen, indem er deutlich fühlte, wie das Blut ihm aus dem Gesichte wich und sein Unterkiefer erschlaffte, so daß sein Mund im Begriffe war, sich zu öffnen. Clawdias Eintritt hatte sich so nebenbei, so unversehens vollzogen, – auf einmal teilte sie den engen Aufenthalt mit den Vettern, nachdem sie eben noch keineswegs dagewesen. Joachim blickte rasch auf Hans Castorp und schlug dann nicht nur die Augen nieder, sondern nahm das illustrierte Blatt, das er schon fortgelegt hatte, wieder vom Tisch und verbarg sein Gesicht dahinter. Hans Castorp fand nicht die Entschlußkraft, ein gleiches zu tun. Nach dem Erblassen war er sehr rot geworden, und sein Herz hämmerte.

Frau Chauchat nahm bei der Tür zum Laboratorium in einem rundlichen kleinen Sessel mit stummelhaften, gleichsam rudimentären Armlehnen Platz, schlug, zurückgelehnt, leicht ein Bein über das andere und blickte ins Leere, wobei ihre Pribislav-Augen, die durch das Bewußtsein, daß man sie beobachtete, aus ihrer Blickrichtung nervös abgelenkt wurden, etwas schielten. Sie trug einen weißen Sweater und einen blauen Rock und hielt ein Buch auf dem Schoß, einen Leihbibliotheksband, wie es schien, während sie mit der Sohle des am Boden stehenden Fußes leise aufpochte.

Schon nach anderthalb Minuten änderte sie ihre Haltung, blickte um sich, stand auf mit einer Miene, als wisse sie nicht, woran sie sei und wohin sie sich zu wenden habe – und begann zu sprechen. Sie fragte etwas, richtete eine Frage an Joachim, obgleich dieser in seine illustrierte Zeitung vertieft schien, während Hans Castorp unbeschäftigt dasaß, – bildete Worte mit ihrem Munde und gab Stimme dazu aus ihrer weißen Kehle: es war die nicht tiefe, aber eine kleine Schärfe enthaltende, angenehm belegte Stimme, die Hans Castorp kannte – von langer Hand her kannte und einmal sogar aus unmittelbarer Nähe vernommen hatte: damals, als mit dieser Stimme für ihn selbst gesagt worden war: „Gern. Du mußt ihn mir nach der Stunde aber bestimmt zurückgeben.“ Das war jedoch fließender und bestimmter hingesprochen worden; jetzt kamen die Worte etwas schleppend und gebrochen, die Sprechende hatte kein natürliches Anrecht darauf, sie lieh sie nur, wie Hans Castorp sie schon ein paarmal hatte tun hören, mit einer Art von Überlegenheitsgefühl, das aber von demütigem Entzücken umwogt war. Eine Hand in der Tasche ihrer Wolljacke und die andere am Hinterkopf, fragte Frau Chauchat:

„Ich bitte, auf wieviel Uhr sind Sie bestellt?“

Und Joachim, der einen schnellen Blick auf seinen Vetter geworfen hatte, antwortete, indem er sitzend die Absätze zusammenzog:

„Auf halb vier Uhr.“

Sie sprach wieder:

„Ich auf drei Viertel. Was gibt es denn? Es ist gleich vier. Es sind Personen eben noch eingetreten, nicht wahr?“

„Ja, zwei Personen“, antwortete Joachim. „Sie waren vor uns an der Reihe. Der Dienst hat Verspätung. Es scheint, das Ganze hat sich um eine halbe Stunde verschoben.“

„Das ist unangenehm!“ sagte sie und betastete nervös ihr Haar.

„Eher“, erwiderte Joachim. „Wir warten auch schon fast eine halbe Stunde.“

So sprachen sie miteinander, und wie im Traum hörte Hans Castorp zu. Daß Joachim mit Frau Chauchat sprach, war beinahe dasselbe, wie wenn er selbst mit ihr gesprochen hätte, – wenn freilich auch wieder etwas ganz und gar anderes. Das „Eher“ hatte Hans Castorp beleidigt, es kam ihm frech und mindestens befremdend gleichmütig vor in Anbetracht der Umstände. Aber Joachim konnte am Ende so sprechen, – er konnte überhaupt mit ihr sprechen und tat sich vielleicht vor ihm noch etwas zugute darauf mit seinem kecken „Eher“, – ungefähr wie er selbst vor Joachim und Settembrini sich aufgespielt hatte, als man ihn gefragt, wie lange er zu bleiben gedenke und er „drei Wochen“ geantwortet hatte. An Joachim, obgleich er die Zeitung vor das Gesicht gehalten, hatte sie sich gewandt mit ihrer Anrede, – gewiß weil er der älter Eingesessene, ihr länger von Ansehen Bekannte war; aber doch auch aus jenem anderen Grunde, weil ein Verkehr auf gesittetem Fuße, ein artikulierter Austausch in ihrem Falle am Platze war und nichts Wildes, Tiefes, Schreckliches und Geheimnisvolles zwischen ihnen waltete. Hätte jemand Braunäugiges mit Rubinring und Orangenparfüm hier mit ihnen gewartet, so wäre es an ihm, Hans Castorp, gewesen, das Wort zu führen und „Eher“ zu sagen, – unabhängig und rein, wie er ihr gegenüberstand. „Gewiß, eher unangenehm, wertes Fräulein!“ hätte er gesagt und vielleicht sein Taschentuch mit einem Schwung aus der Brusttasche gezogen, um sich zu schneuzen. „Bitte, Geduld zu üben. Wir sind in keiner besseren Lage.“ Und Joachim hätte gestaunt über seine Leichtlebigkeit, – wahrscheinlich aber, ohne sich ernstlich an seine Stelle zu wünschen. Nein, auch Hans Castorp war nicht eifersüchtig auf Joachim, wie die Dinge lagen, obgleich dieser es war, der mit Frau Chauchat sprechen durfte. Er war einverstanden damit, daß sie sich an ihn gewandt hatte; sie hatte den Umständen Rechnung getragen, indem sie es tat, und so zu erkennen gegeben, daß sie sich dieser Umstände bewußt war ... Sein Herz hämmerte.

Nach der gelassenen Behandlung, die Frau Chauchat durch Joachim erfahren, und in der Hans Castorp sogar etwas wie eine leise Feindseligkeit auf seiten des guten Joachim gegen die Mitpatientin gespürt hatte, eine Feindseligkeit, über die er bei aller Erschütterung lächeln mußte, – versuchte „Clawdia“ einen Gang durch das Zimmer zu tun; doch fehlte es an Raum dazu, und so nahm auch sie ein illustriertes Heft vom Tische und kehrte damit in den Sessel mit den rudimentären Armlehnen zurück. Hans Castorp saß und sah sie an, indem er die Kinnstütze seines Großvaters nachahmte und so dem Alten wirklich lächerlich ähnlich sah. Da Frau Chauchat wieder ein Bein über das andere gelegt hatte, zeichnete sich ihr Knie, ja, die ganze schlanke Linie ihres Beines unter dem blauen Tuchrock ab. Sie war nur von mittlerer Größe, einer in Hans Castorps Augen höchst angenehmen und richtigen Größe, aber verhältnismäßig hochbeinig und nicht breit in den Hüften. Sie saß nicht zurückgelehnt, sondern vorgebeugt, die gekreuzten Unterarme auf den Oberschenkel des übergeschlagenen Beines gestützt, mit gerundetem Rücken und vorfallenden Schultern, so daß die Nackenwirbel hervortraten, ja, unter dem anliegenden Sweater beinahe das Rückgrat zu erkennen war und ihre Brust, die nicht so hoch und üppig entwickelt wie bei Marusja, sondern klein und mädchenhaft war, von beiden Seiten zusammengepreßt wurde. Plötzlich erinnerte sich Hans Castorp, daß auch sie hier in der Erwartung saß, durchleuchtet zu werden. Der Hofrat malte sie; er gab ihre äußere Erscheinung mit Öl und Farbstoffen auf der Leinwand wieder. Jetzt aber würde er im Halbdunkel Lichtstrahlen auf sie lenken, die ihm das Innere ihres Körpers bloßlegten. Und indem Hans Castorp dies dachte, wandte er mit einer ehrbaren Verfinsterung seiner Miene den Kopf beiseite, einem Ausdruck von Diskretion und Sittsamkeit, den vor sich selber anzunehmen ihm bei dieser Vorstellung angemessen schien.

Das Beisammensein zu dritt in dem Wartezimmerchen währte nicht lange. Man hatte drinnen mit Sascha und seiner Mutter wohl nicht viel Federlesens gemacht, man sputete sich, die Verspätung wieder einzuholen. Neuerdings öffnete der Techniker im weißen Kittel die Tür, Joachim warf aufstehend sein Zeitungsblatt auf den Tisch zurück, und Hans Castorp folgte ihm, wenn auch nicht ohne inneres Zögern, zur Tür. Ritterliche Bedenken regten sich in ihm zusammen mit der Versuchung, dennoch auf gesittete Art zu Frau Chauchat zu sprechen und ihr den Vortritt anzubieten; vielleicht sogar auf Französisch, wenn es sich machen ließ; und hastig suchte er bei sich nach den Vokabeln, der Satzbildung. Aber er wußte nicht, ob solche Höflichkeiten hier ortsüblich waren, ob nicht die angesetzte Reihenfolge hoch über Ritterlichkeiten erhaben war. Joachim mußte es wissen, und da er nicht Miene machte, vor der anwesenden Dame zurückzustehen, obgleich Hans Castorp ihn bewegt und dringlich anblickte, so folgte dieser ihm denn an Frau Chauchat vorbei, die nur flüchtig aus ihrer gebückten Haltung aufschaute, und durch die Tür ins Laboratorium.

Er war zu benommen von dem, was er hinter sich ließ, von den Abenteuern der letzten zehn Minuten, als daß mit dem Übertritt in den Durchleuchtungsraum auch seine innere Gegenwart sich sogleich hätte umstellen können. Er sah nichts oder nur sehr Allgemeines im künstlichen Halblicht. Er hörte Frau Chauchats angenehm verschleierte Stimme, mit der sie gesagt hatte: „Was gibt es denn ... Es sind Personen eben noch eingetreten ... Das ist unangenehm ...“, und dieser Stimmklang schauerte ihm als ein süßer Reiz den Rücken hinunter. Er sah ihr Knie unter dem Tuchrock sich abbilden, sah an ihrem gebeugten Nacken, unter dem kurzen rötlichblonden Haar, das dort lose hing, ohne in die Zopffrisur aufgenommen worden zu sein, die Halswirbel hervortreten, und abermals überlief ihn der Schauder. Er sah Hofrat Behrens, abgewandt von den Eintretenden, vor einem Schrank oder regalförmigen Einbau stehen und eine schwärzliche Platte betrachten, die er mit ausgestrecktem Arm gegen das matte Deckenlicht hielt. An ihm vorbei gingen sie tiefer in den Raum hinein, überholt von dem Gehilfen, der Vorbereitungen zu ihrer Behandlung und Abfertigung traf. Es roch eigentümlich hier. Eine Art von abgestandenem Ozon erfüllte die Atmosphäre. Zwischen den schwarzverhängten Fenstern vorspringend, teilte der Einbau das Laboratorium in zwei ungleiche Hälften. Man unterschied physikalische Apparate, Hohlgläser, Schaltbretter, aufrecht ragende Meßinstrumente, aber auch einen kameraartigen Kasten auf rollbarem Gestell, gläserne Diapositive, die reihenweise in die Wand eingelassen waren, – man wußte nicht, war man in dem Atelier eines Photographen, einer Dunkelkammer oder einer Erfinderwerkstatt und technischen Hexenoffizin.

Joachim hatte ohne weiteres begonnen, seinen Oberkörper freizumachen. Der Gehilfe, ein jüngerer, gedrungener und rotbäckiger Eingeborener in weißem Kittel, wies Hans Castorp an, ein gleiches zu tun. Es gehe schnell, er sei sofort an der Reihe ... Während Hans Castorp die Weste auszog, kam Behrens aus dem kleinen Abteil, wo er gestanden, in den geräumigeren herüber.

„Hallo!“ sagte er. „Das sind ja unsere Dioskuren! Castorp und Pollux ... Bitte, Wehelaute zu unterdrücken! Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich glaube, Sie haben Angst, Castorp, uns Ihr Inneres zu eröffnen? Seien Sie ruhig, es geht ganz ästhetisch zu. Hier, haben Sie meine Privatgalerie schon gesehen?“ Und er zog Hans Castorp am Arm vor die Reihen der dunklen Gläser, hinter denen er knipsend Licht einschaltete. Da erhellten sie sich, zeigten ihre Bilder. Hans Castorp sah Gliedmaßen: Hände, Füße, Kniescheiben, Ober- und Unterschenkel, Arme und Beckenteile. Aber die rundliche Lebensform dieser Bruchstücke des Menschenleibes war schemenhaft und dunstig von Kontur; wie ein Nebel und bleicher Schein umgab sie ungewiß ihren klar, minutiös und entschieden hervortretenden Kern, das Skelett.

„Sehr interessant“, sagte Hans Castorp.

„Das ist allerdings interessant!“ erwiderte der Hofrat. „Nützlicher Anschauungsunterricht für junge Leute. Lichtanatomie, verstehen Sie, Triumph der Neuzeit. Das ist ein Frauenarm, Sie ersehen es aus seiner Niedlichkeit. Damit umfangen sie einen beim Schäferstündchen, verstehen Sie.“ Und er lachte, wobei seine Oberlippe mit dem gestutzten Schnurrbärtchen sich einseitig höher schürzte. Die Bilder erloschen. Hans Castorp wandte sich zur Seite, dorthin, wo Joachims Innenaufnahme sich vorbereitete.

Es geschah vor jenem Einbau, an dessen anderer Seite der Hofrat anfangs gestanden. Joachim hatte auf einer Art von Schustersessel vor einem Brett Platz genommen, gegen das er die Brust preßte, wobei er es außerdem mit den Armen umschlang; und mit knetenden Bewegungen verbesserte der Gehilfe seine Stellung, indem er Joachims Schultern weiter nach vorn drückte, seinen Rücken massierte. Hierauf begab er sich hinter die Kamera, um, wie irgend ein Photograph, gebückt, breitbeinig, die Ansicht zu prüfen, drückte seine Zufriedenheit aus und mahnte Joachim, beiseite gehend, tief einzuatmen und, bis alles vorüber, die Luft anzuhalten. Joachims gerundeter Rücken dehnte sich und blieb stehen. In diesem Augenblick hatte der Gehilfe am Schaltbrett den nötigen Handgriff getan. Zwei Sekunden lang spielten fürchterliche Kräfte, deren Aufwand erforderlich war, um die Materie zu durchdringen, Ströme von Tausenden von Volt, von hunderttausend, Hans Castorp glaubte sich zu erinnern. Kaum zum Zwecke gebändigt, suchten die Gewalten auf Nebenwegen sich Luft zu machen. Entladungen knallten wie Schüsse. Es knatterte blau am Meßapparat. Lange Blitze fuhren knisternd die Wand entlang. Irgendwo blickte ein rotes Licht, einem Auge gleich, still und drohend in den Raum, und eine Phiole in Joachims Rücken füllte sich grün. Dann beruhigte sich alles; die Lichterscheinungen verschwanden, und Joachim ließ seufzend den Atem aus. Es war geschehen.

„Nächster Delinquent!“ sagte Behrens und stieß Hans Castorp mit dem Ellenbogen. „Nur keine Müdigkeit vorschützen! Sie kriegen ein Freiexemplar, Castorp. Dann können Sie noch Kindern und Enkeln die Geheimnisse Ihres Busens an die Wand projizieren!“

Joachim war abgetreten; der Techniker wechselte die Platte. Hofrat Behrens unterwies den Neuling persönlich, wie er sich zu setzen, zu halten habe. „Umarmen!“ sagte er. „Das Brett umarmen! Stellen Sie sich meinetwegen was anderes darunter vor! Und gut die Brust andrücken, als ob Glücksempfindungen damit verbunden wären! Recht so. Einatmen! Stillgehalten!“ kommandierte er. „Bitte, recht freundlich!“ Hans Castorp wartete blinzelnd, die Lunge voller Luft. Hinter ihm brach das Gewitter los, knisterte, knatterte, knallte und beruhigte sich. Das Objektiv hatte in sein Inneres geblickt.

Er stieg ab, verwirrt und betäubt von dem, was mit ihm geschehen, obgleich ja die Durchdringung ihm nicht im geringsten empfindlich geworden war. „Brav“, sagte der Hofrat. „Nun werden wir selber sehen.“ Und schon hatte Joachim, bewandert wie er war, sich weiter hinbegeben, näher der Ausgangstür an einem Stativ Aufstellung genommen, im Rücken den weitläufig sich aufbauenden Apparat, auf dessen Rückenhöhe man eine halb mit Wasser gefüllte Glasblase mit Verdunstungsröhre gewahrte, vor sich, in Brusthöhe, einen gerahmten Schirm, der an Rollzügen schwebte. Zu seiner Linken, inmitten eines Schaltbretts und Instrumentariums, erhob sich eine rote Lampenglocke. Der Hofrat, vor dem hängenden Schirm auf einem Schemel reitend, entzündete sie. Das Deckenlicht erlosch, nur das Rubinlicht noch erhellte die Szene. Dann hob der Meister auch dieses mit kurzem Handgriff auf, und dichteste Finsternis hüllte die Laboranten ein.

„Erst müssen die Augen sich gewöhnen“, hörte man den Hofrat im Dunkel sagen. „Ganz große Pupillen müssen wir erst kriegen, wie die Katzen, um zu sehen, was wir sehen wollen. Das verstehen Sie ja wohl, daß wir es so ohne weiteres mit unseren gewöhnlichen Tagaugen nicht ordentlich sehen könnten. Den hellen Tag mit seinen fidelen Bildern müssen wir uns erst mal aus dem Sinn schlagen zu dem Behuf.“

„Selbstredend“, sagte Hans Castorp, der hinter des Hofrats Schulter stand, und schloß die Augen, da es ganz gleichgültig war, ob man sie offen hielt, oder nicht, so schwarz war die Nacht. „Erst müssen wir uns mal die Augen mit Finsternis waschen, um so was zu sehen, das ist doch klar. Ich finde es sogar gut und richtig, daß wir uns vorher ein bißchen sammeln, sozusagen in stillem Gebet. Ich stehe hier und habe die Augen geschlossen, es ist mir angenehm schläfrig zu Sinn. Aber wonach riecht es hier nur?“

„Sauerstoff“, sagte der Hofrat. „Das ist Oxygen, was Sie in den Lüften spüren. Atmosphärisches Produkt des Stubengewitters, verstehen Sie mich ... Augen auf!“ sagte er. „Jetzt fängt die Beschwörung an.“ Hans Castorp gehorchte eilig.

Man hörte das Umlegen eines Hebels. Ein Motor sprang auf und sang wütend in die Höhe, wurde aber durch einen neuen Handgriff zur Stetigkeit gebändigt. Der Fußboden bebte gleichmäßig. Das rote Lichtlein, länglich und senkrecht, blickte mit stillem Drohen herüber. Irgendwo knisterte ein Blitz. Und langsam, mit milchigem Schein, ein sich erhellendes Fenster, trat aus dem Dunkel das bleiche Viereck des Leuchtschirms hervor, vor welchem Hofrat Behrens auf seinem Schusterschemel ritt, die Schenkel gespreizt, die Fäuste daraufgestemmt, die Stumpfnase dicht an der Scheibe, die Einblick in eines Menschen organisches Inneres gewährte.

„Sehen Sie, Jüngling?“ fragte er ... Hans Castorp beugte sich über seine Schulter, hob aber noch einmal den Kopf, dorthin, wo im Dunkel Joachims Augen zu vermuten waren, die sanft und traurig blicken mochten, wie damals bei der Untersuchung, und fragte:

„Du erlaubst doch?“

„Bitte, bitte“, antwortete Joachim liberal aus seiner Finsternis. Und beim Schüttern des Erdbodens, im Knistern und Rumoren der spielenden Kräfte spähte Hans Castorp gebückt durch das bleiche Fenster, spähte durch Joachim Ziemßens leeres Gebein. Der Brustknochen fiel mit dem Rückgrat zur dunklen, knorpeligen Säule zusammen. Das vordere Rippengerüst wurde von dem des Rückens überschnitten, das blasser erschien. Geschwungen zweigten oben die Schlüsselbeine nach beiden Seiten ab, und in der weichen Lichthülle der Fleischesform zeigten sich dürr und scharf das Schulterskelett, der Ansatz von Joachims Oberarmknochen. Es war hell im Brustraum, aber man unterschied ein Geäder, dunkle Flecke, ein schwärzliches Gekräusel.

„Klares Bild“, sagte der Hofrat. „Das ist die anständige Magerkeit, die militärische Jugend. Ich habe hier Wänste gehabt, – undurchdringlich, beinahe nichts zu erkennen. Die Strahlen müßte man erst mal entdecken, die durch so eine Fettschicht gehen ... Dies hier ist saubere Arbeit. Sehen Sie das Zwerchfell?“ sagte er und wies mit dem Finger auf den dunklen Bogen, der sich unten im Fenster hob und senkte ... „Sehen Sie die Buckel hier linkerseits, die Erhöhungen? Das ist die Rippenfellentzündung, die er mit fünfzehn Jahren hatte. Tief atmen!“ kommandierte er. „Tiefer! Ich sage tief!“ Und Joachims Zwerchfell hob sich zitternd, so hoch es konnte, Aufhellung war in den oberen Lungenteilen zu bemerken, aber der Hofrat war nicht befriedigt. „Ungenügend!“ sagte er. „Sehen Sie die Hilusdrüsen? Sehen Sie die Verwachsungen? Sehen Sie die Kavernen hier? Da kommen die Gifte her, die ihn beschwipsen.“ Aber Hans Castorps Aufmerksamkeit war in Anspruch genommen von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamme Sichtbarem, und zwar größerenteils zur Rechten, vom Beschauer aus gesehen, – das sich gleichmäßig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach Art einer rudernden Qualle.

„Sehen Sie sein Herz?“ fragte der Hofrat, indem er abermals die riesige Hand vom Schenkel löste und mit dem Zeigefinger auf das pulsierende Gehänge wies ... Großer Gott, es war das Herz, Joachims ehrliebendes Herz, was Hans Castorp sah!

„Ich sehe dein Herz!“ sagte er mit gepreßter Stimme.

„Bitte, bitte“, antwortete Joachim wieder, und wahrscheinlich lächelte er ergeben dort oben im Dunklen. Aber der Hofrat gebot ihnen, zu schweigen und keine Empfindsamkeiten zu tauschen. Er studierte die Flecke und Linien, das schwarze Gekräusel im inneren Brustraum, während auch sein Mitspäher nicht müde wurde, Joachims Grabesgestalt und Totenbein zu betrachten, dies kahle Gerüst und spindeldürre Memento. Andacht und Schrecken erfüllten ihn. „Jawohl, jawohl, ich sehe“, sagte er mehrmals. „Mein Gott, ich sehe!“ Er hatte von einer Frau gehört, einer längst verstorbenen Verwandten von Tienappelscher Seite, – sie sollte mit einer schweren Gabe ausgestattet oder geschlagen gewesen sein, die sie in Demut getragen, und die darin bestanden hatte, daß Leute, die baldigst sterben sollten, ihren Augen als Gerippe erschienen waren. So sah nun Hans Castorp den guten Joachim, wenn auch mit Hilfe und auf Veranstaltung der physikalisch-optischen Wissenschaft, so daß es nichts zu bedeuten hatte und alles mit rechten Dingen zuging, zumal er Joachims Zustimmung ausdrücklich eingezogen. Dennoch wandelte Verständnis ihn an für die Melancholie im Schicksal jener seherischen Tante. Heftig bewegt von dem, was er sah, oder eigentlich davon, daß er es sah, fühlte er sein Gemüt von geheimen Zweifeln gestachelt, ob es rechte Dinge seien, mit denen dies zugehe, Zweifeln an der Erlaubtheit seines Schauens im schütternden, knisternden Dunkel; und die zerrende Lust der Indiskretion mischte sich in seiner Brust mit Gefühlen der Rührung und Frömmigkeit.

Aber wenige Minuten später stand er selbst im Gewitter am Pranger, während Joachim, wieder geschlossenen Leibes, sich ankleidete. Abermals spähte der Hofrat durch die milchige Scheibe, diesmal in Hans Castorps Inneres, und aus seinen halblauten Äußerungen, abgerissenen Schimpfereien und Redensarten schien hervorzugehen, daß der Befund seinen Erwartungen entsprach. Er war dann noch so freundlich, zu erlauben, daß der Patient seine eigene Hand durch den Leuchtschirm betrachte, da er dringend darum gebeten hatte. Und Hans Castorp sah, was zu sehen er hatte erwarten müssen, was aber eigentlich dem Menschen zu sehen nicht bestimmt ist, und wovon auch er niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab. Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand, um deren oberes Ringfingerglied sein Siegelring, vom Großvater her ihm vermacht, schwarz und lose schwebte: ein hartes Ding dieser Erde, womit der Mensch seinen Leib schmückt, der bestimmt ist, darunter wegzuschmelzen, so daß es frei wird und weiter geht an ein Fleisch, das es eine Weile wieder tragen kann. Mit den Augen jener Tienappelschen Vorfahrin erblickte er einen vertrauten Teil seines Körpers, durchschauenden, voraussehenden Augen, und zum erstenmal in seinem Leben verstand er, daß er sterben werde. Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte, wenn er Musik hörte, – ziemlich dumm, schläfrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes gegen die Schulter geneigt. Der Hofrat sagte:

„Spukhaft, was? Ja, ein Einschlag von Spukhaftigkeit ist nicht zu verkennen.“

Und dann tat er den Kräften Einhalt. Der Fußboden kam zur Ruhe, die Lichterscheinungen schwanden, das magische Fenster hüllte sich wieder in Dunkel. Das Deckenlicht ging an. Und während auch Hans Castorp sich in die Kleider warf, gab Behrens den jungen Leuten einige Auskunft über seine Beobachtungen, unter Berücksichtigung ihrer laienhaften Auffassungsfähigkeit. Was im besonderen Hans Castorp betraf, so hatte der optische Befund den akustischen so genau bestätigt, wie die Ehre der Wissenschaft es nur irgend verlangte. Es seien die alten Stellen sowohl wie die frische zu sehen gewesen, und „Stränge“ zögen sich von den Bronchien aus ziemlich weit in das Organ hinein, – „Stränge mit Knötchen“. Hans Castorp werde es selbst auf dem Diapositivbildchen nachprüfen können, das ihm, wie gesagt, demnächst werde eingehändigt werden. Also Ruhe, Geduld, Mannszucht, messen, essen, liegen, abwarten und Tee trinken. Er wandte ihnen den Rücken. Sie gingen. Hans Castorp, hinter Joachim, blickte im Hinausgehen über die Schulter. Vom Techniker eingelassen, betrat Frau Chauchat das Laboratorium.