Er versucht sich in französischer Konversation
Nein, eingelebt war er noch keineswegs, weder was die Kenntnis des hiesigen Lebens in all seiner Eigentümlichkeit betraf, – eine Kenntnis, die er in so wenigen Tagen unmöglich gewinnen konnte und, wie er sich sagte (und es auch gegen Joachim aussprach), selbst in drei Wochen leider nicht würde gewinnen können; noch auch in bezug auf die Anpassung seines Organismus an die so sehr eigentümlichen atmosphärischen Verhältnisse bei „denen hier oben“, denn diese Anpassung wurde ihm sauer, überaus sauer, ja, wie ihm schien, wollte sie überhaupt nicht vonstatten gehen.
Der Normaltag war klar gegliedert und fürsorglich organisiert, man kam rasch in Trott und gewann Geläufigkeit, wenn man sich seinem Getriebe einfügte. Im Rahmen der Woche jedoch und größerer Zeiteinheiten unterlag er gewissen regelmäßigen Abwandlungen, die sich erst nach und nach einfanden, die eine zum erstenmal, nachdem die andere sich schon wiederholt hatte; und auch was die alltägliche Einzelerscheinung von Dingen und Gesichtern betraf, so hatte Hans Castorp noch auf Schritt und Tritt zu lernen, obenhin Angeschautes genauer zu bemerken und Neues mit jugendlicher Empfänglichkeit in sich aufzunehmen.
Jene bauchigen Gefäße mit kurzen Hälsen zum Beispiel, die auf den Gängen vor einzelnen Türen standen und auf die gleich am Abend seiner Ankunft sein Auge gefallen war, enthielten Sauerstoff, – Joachim erklärte es ihm auf Befragen. Reiner Sauerstoff war darin, zu sechs Franken der Ballon, und das belebende Gas wurde den Sterbenden zum Zweck einer letzten Anfeuerung und Hinhaltung ihrer Kräfte zugeführt, – sie schlürften es durch einen Schlauch. Denn hinter den Türen, vor denen solche Ballons standen, lagen Sterbende oder „moribundi“, wie Hofrat Behrens sagte, als Hans Castorp ihm einmal im ersten Stockwerk begegnete, – der Hofrat kam in weißem Kittel und mit blauen Backen den Korridor entlanggerudert, und sie gingen zusammen die Treppe hinauf.
„Na, Sie unbeteiligter Zuschauer Sie!“ sagte Behrens. „Was machen Sie denn, finden wir Gnade vor Ihren prüfenden Blicken? Ehrt uns, ehrt uns. Ja, unsere Sommersaison, die hats in sich, die ist nicht von schlechten Eltern. Habe es mir auch was kosten lassen, um sie ein bißchen zu poussieren. Aber schade ist es doch, daß Sie den Winter nicht mitmachen wollen bei uns, – Sie wollen ja bloß acht Wochen bleiben, hab ich gehört? Ach, drei? Das ist aber eine Stippvisite, das lohnt ja das Ablegen gar nicht; na, wie Sie meinen. Aber schade ist es doch, daß Sie den Winter nicht mitmachen, denn was so die Hotevoleh ist,“ sagte er mit scherzhaft unmöglicher Aussprache, „die internationale Hotevoleh da unten in Platz, die kommt doch nun mal erst im Winter, und die müßten Sie sehen, da täten Sie was für Ihre Bildung. Zum Kugeln, wenn die Kerls so Sprünge machen auf ihren Fußbrettern. Und dann die Damen, herrje, die Damen! Bunt wie die Paradiesvögel, sag ich Ihnen, und mächtig galant ... Nun muß ich aber zu meinem Moribundus,“ sagte er, „auf siebenundzwanzig hier. Finales Stadium, wissen Sie. Durch die Mitte ab. Fünf Dutzend Fiaskos Oxygen hat er gestern und heute noch ausgekneipt, der Schlemmer. Aber bis Mittag wird er wohl ad penates gehen. Na, lieber Reuter,“ sagte er, indem er eintrat, „wie wäre es, wenn wir noch einer den Hals brächen ...“ Seine Worte verloren sich hinter der Tür, die er zuzog. Aber einen Augenblick hatte Hans Castorp im Hintergrunde des Zimmers auf dem Kissen das wächserne Profil eines jungen Mannes mit dünnem Kinnbart gesehen, der langsam seine sehr großen Augäpfel zur Tür gerollt hatte.
Es war der erste Moribundus, den Hans Castorp in seinem Leben zu sehen bekam, denn seine Eltern sowohl wie der Großvater waren ja damals gleichsam hinter seinem Rücken gestorben. Wie würdevoll der Kopf des jungen Mannes mit aufwärts geschobenem Kinnbart auf dem Kissen gelegen hatte! Wie bedeutend der Blick seiner übergroßen Augen gewesen war, als er sie langsam zur Tür gedreht hatte! Hans Castorp, noch ganz vertieft in den flüchtigen Anblick, versuchte unwillkürlich, ebenso große, bedeutende und langsame Augen wie der Moribundus zu machen, während er weiter zur Treppe ging, und mit diesen Augen blickte er eine Dame an, die hinter ihm aus einer Tür getreten war und ihn am Treppenkopf überholte. Er erkannte nicht gleich, daß es Madame Chauchat war. Sie lächelte leise über die Augen, die er machte, stützte dann mit der Hand die Flechte an ihrem Hinterkopf und ging vor ihm die Treppe hinunter, geräuschlos, schmiegsam und etwas vorgeschobenen Kopfes.
Bekanntschaften machte er fast keine in diesen ersten Tagen und auch später noch lange nicht. Die Tagesordnung war dem im ganzen nicht günstig; auch war Hans Castorp ja zurückhaltenden Wesens, fühlte sich überdies als Gast und „unbeteiligter Zuschauer“ hier oben, wie Hofrat Behrens gesagt hatte, und ließ sich an Joachims Gespräch und Gesellschaft in der Hauptsache gern genügen. Die Krankenschwester auf dem Korridor freilich reckte so lange den Hals nach ihnen, bis Joachim, der ihr schon früher manchmal kleine Plaudereien gewährt hatte, seinen Vetter mit ihr bekannt machte. Das Kneiferband hinter dem Ohr, sprach sie nicht nur geziert, sondern geradezu gequält und machte bei näherer Prüfung den Eindruck, als habe unter der Folter der Langenweile ihr Verstand gelitten. Es war sehr schwer, wieder von ihr loszukommen, da sie vor der Beendigung des Gespräches eine krankhafte Furcht an den Tag legte und, sobald die jungen Leute Miene machten, weiterzugehen, sich mit hastigen Worten und Blicken, auch einem verzweifelten Lächeln an sie klammerte, so daß sie aus Erbarmen noch bei ihr stehen blieben. Sie sprach des langen und breiten von ihrem Papa, welcher Jurist, und ihrem Cousin, der Arzt sei, – offenbar um sich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen und ihre Herkunft aus gebildeter Gesellschaftsschicht zu bekunden. Was ihren Pflegling dort hinter der Tür betraf, so war er der Sohn eines Koburger Puppenfabrikanten, Rotbein mit Namen, und neuerdings habe es sich bei dem jungen Fritz auf den Darm geworfen. Das sei hart für alle Beteiligten, wie die Herren sich wohl vorstellen könnten; namentlich wenn man nun einmal aus akademischem Hause stamme und die Feinfühligkeit der höheren Klassen besitze, so sei es hart. Und nicht den Rücken dürfe man kehren ... Neulich, was glaubten die Herren, komme sie von einem kurzen Ausgange zurück, nichts als ein wenig Zahnpulver habe sie sich besorgt, und finde den Kranken in seinem Bette sitzend, vor sich ein Glas dickes, dunkles Bier, eine Salamiwurst, ein derbes Stück Schwarzbrot und eine Gurke! All diese heimischen Leckerbissen hätten die Seinen ihm zugesandt zu seiner Kräftigung. Aber am nächsten Tage sei er natürlich mehr tot als lebendig gewesen. Er selbst beschleunige sein Ende. Aber das werde die Erlösung ja nur für ihn bedeuten, nicht auch für sie – Schwester Berta sei übrigens ihr Name, in Wirklichkeit Alfreda Schildknecht –, denn sie komme dann eben zu einem anderen Kranken, in mehr oder weniger vorgeschrittenem Stadium, hier oder in einem anderen Sanatorium, das sei die Perspektive, die sich ihr eröffne, und eine andere eröffne sich eben nicht.
Ja, sagte Hans Castorp, ihr Beruf sei gewiß schwer, aber doch auch befriedigend, sollte er denken.
Gewiß, antwortete sie, befriedigend sei er, – befriedigend, aber sehr schwer.
Nun, alles Gute für Herrn Rotbein. Und die Vettern wollten gehen.
Aber da klammerte sie sich an sie mit Worten und Blicken, und so jammervoll war es zu sehen, wie sie sich anstrengte, die jungen Leute ein wenig länger zu fesseln, daß es grausam gewesen wäre, ihr nicht noch eine Frist zu gewähren.
„Er schläft!“ sagte sie. „Er braucht mich nicht. Da bin ich für einige kurze Minuten auf den Gang hinausgetreten ...“ Und sie begann über Hofrat Behrens zu klagen und den Ton, in dem er mit ihr verkehre und der allzu zwanglos sei, um ihrer Herkunft zu entsprechen. Bei weitem gab sie Herrn Dr. Krokowski den Vorzug, – ihn nannte sie seelenvoll. Dann kam sie wieder auf ihren Papa und ihren Cousin. Ihr Hirn gab nichts weiter her. Vergebens rang sie danach, die Vettern noch ein wenig zu fesseln, indem sie plötzlich mit einem Anlauf die Stimme erhob und beinahe zu schreien begann, wenn sie gehen wollten, – sie entschlüpften ihr endlich und gingen. Aber die Schwester sah ihnen noch eine Weile mit vorgebeugtem Oberkörper und saugenden Blicken nach, als wollte sie sie mit den Augen zu sich zurückziehen. Dann entrang sich ein Seufzer ihrer Brust, und sie kehrte zu ihrem Pflegling ins Zimmer zurück.
Sonst wurde Hans Castorp in diesen Tagen nur noch mit der schwarzbleichen Dame bekannt, jener Mexikanerin, die er im Garten gesehen hatte und die „Tous les deux“ genannt wurde. Es geschah wirklich, daß auch er aus ihrem Munde die trübselige Formel hörte, die ihr zum Spitznamen geworden war; aber da er sich vorbereitet hatte, so bewahrte er gute Haltung dabei und konnte nachher zufrieden mit sich sein. Die Vettern trafen sie vor dem Hauptportal, als sie nach dem ersten Frühstück den vorgeschriebenen Morgenspaziergang antraten. In ein schwarzes Kaschmirtuch gehüllt, mit krummen Knien und langen, ruhelos wandernden Tritten erging sie sich dort, und gegen den schwarzen Schleier, der um ihr silbern durchzogenes Haar geschlungen und unter dem Kinn zusammengebunden war, schimmerte mattweiß ihr alterndes Gesicht mit dem großen, verhärmten Munde. Joachim, ohne Hut wie gewöhnlich, begrüßte sie durch Verneigung, und sie dankte langsam, während beim Schauen die Querfalten in ihrer engen Stirn sich vertieften. Sie blieb stehen, da sie ein neues Gesicht bemerkte, und erwartete, leise mit dem Kopfe nickend, die Annäherung der jungen Leute; denn offenbar hielt sie es für notwendig zu hören, ob der Fremde von ihrem Schicksal wisse, und seine Äußerung darüber entgegenzunehmen. Joachim stellte seinen Vetter vor. Sie reichte dem Gast aus der Mantille heraus die Hand, eine magere, gelbliche, hoch geäderte, mit Ringen geschmückte Hand, und fuhr fort, ihn nickend anzublicken. Dann kam es:
„Tous les dé, monsieur“, sagte sie. „Tous les dé vous savez ...“
„Je le sais, madame“, antwortete Hans Castorp gedämpft. „Et je le regrette beaucoup.“
Die schlaffen Hautsäcke unter ihren jettschwarzen Augen waren so groß und schwer, wie er es noch bei keinem Menschen gesehen. Ein leiser, welker Duft ging von ihr aus. Es war ihm sanft und ernst um das Herz.
„Merci“, sagte sie mit einer rasselnden Aussprache, die sonderbar zu der Gebrochenheit ihres Wesens stimmte, und der eine Winkel ihres großen Mundes hing tragisch tief hinab. Dann zog sie die Hand unter die Mantille zurück, neigte den Kopf und machte sich wieder ans Wandern. Hans Castorp aber sagte im Weitergehen:
„Du siehst, es hat mir nichts gemacht, ich bin ganz gut mit ihr fertig geworden. Ich werde überhaupt mit solchen Leuten ganz gut fertig, glaube ich, ich verstehe mich von Natur auf den Umgang mit ihnen, – meinst du nicht auch? Ich glaube sogar, ich komme mit traurigen Menschen im ganzen besser aus, als mit lustigen, weiß Gott, woran es liegt, vielleicht daran, daß ich doch Waise bin und meine Eltern so früh verloren habe, aber wenn die Leute ernst und traurig sind und der Tod im Spiele ist, das bedrückt mich eigentlich nicht und macht mich nicht verlegen, sondern ich fühle mich dabei in meinem Element und jedenfalls besser, als wenn es so forsch zugeht, das liegt mir weniger. Neulich dachte ich: Es ist doch eine Albernheit von den hiesigen Damen, sich dermaßen vor dem Tode zu graulen und allem, was damit zusammenhängt, daß man sie ängstlich davor bewahren muß und das Viatikum bringt, wenn sie gerade essen. Nein, pfui, das ist läppisch. Siehst du nicht ganz gern einen Sarg? Ich sehe ganz gern mal einen. Ich finde, ein Sarg ist ein geradezu schönes Möbel, schon wenn er leer ist, aber wenn jemand darin liegt, dann ist es direkt feierlich in meinen Augen. Begräbnisse haben so etwas Erbauliches, – ich habe schon manchmal gedacht, man sollte, statt in die Kirche, zu einem Begräbnis gehen, wenn man sich ein bißchen erbauen will. Die Leute haben gutes schwarzes Zeug an und nehmen die Hüte ab und sehen auf den Sarg und halten sich ernst und andächtig, und niemand darf faule Witze machen, wie sonst im Leben. Das habe ich sehr gern, wenn sie endlich mal ein bißchen andächtig sind. Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht Pastor hätte werden sollen, – in gewisser Weise hätte das, glaube ich, nicht schlecht für mich gepaßt ... Hoffentlich habe ich keinen Fehler im Französischen gemacht bei dem, was ich sagte?“
„Nein“, sagte Joachim. „Je le regrette beaucoup war ja soweit ganz richtig.“