Tischgespräche
Bei den Mahlzeiten im bunten Speisesaal bereitete es dem jungen Hans Castorp einige Verlegenheit, daß ihm von jenem auf eigene Hand unternommenen Spaziergang das großväterliche Kopfzittern zurückgeblieben war, – gerade bei Tisch stellte es sich fast regelmäßig wieder ein und war dann nicht zu verhindern und schwer zu verbergen. Außer der würdigen Kinnstütze, die nicht dauernd festzuhalten war, machte er verschiedene Mittel ausfindig, die Schwäche zu maskieren, – zum Beispiel hielt er tunlichst den Kopf in Bewegung, indem er nach rechts und links konversierte, oder er drückte, etwa wenn er den Suppenlöffel zum Munde führte, den linken Unterarm fest auf den Tisch, um sich Haltung zu geben, stellte auch wohl den Ellenbogen auf in den Pausen und stützte den Kopf mit der Hand, obgleich dies eine Flegelei war in seinen eigenen Augen und nur in ungebundener Krankengesellschaft allenfalls durchgehen mochte. Aber das alles war lästig und es fehlte nicht viel, daß es ihm die Mahlzeiten vollständig verleidet hätte, die er doch sonst, um der Spannungen und Sehenswürdigkeiten willen, die sie mit sich brachten, so wohl zu schätzen wußte.
Es lag aber so – und Hans Castorp wußte das auch genau –, daß die blamable Erscheinung, mit der er kämpfte, nicht nur körperlicher Herkunft, nicht nur auf die hiesige Luft und die Anstrengung der Akklimatisation zurückzuführen war, sondern eine innere Erregung ausdrückte und mit jenen Spannungen und Sehenswürdigkeiten selbst unmittelbar zusammenhing.
Madame Chauchat kam fast immer zu spät zu Tische, und bis sie kam, saß Hans Castorp und konnte die Füße nicht ruhig halten, denn er wartete auf das Schmettern der Glastür, von dem ihr Eintritt unweigerlich begleitet war, und wußte, daß er dabei zusammenfahren und sein Gesicht würde kalt werden fühlen, was denn auch regelmäßig geschah. Anfangs hatte er jedesmal ergrimmt den Kopf herumgeworfen und die fahrlässige Nachzüglerin mit zornigen Augen zu ihrem Platze am „Guten“ Russentisch begleitet, auch wohl ihr halblaut und zwischen den Zähnen ein Scheltwort, einen Ruf empörter Mißbilligung nachgesandt. Das unterließ er jetzt, beugte den Kopf tiefer über den Teller, wobei er sich wohl gar auf die Lippe biß, oder wandte ihn absichtlich und künstlich nach der anderen Seite; denn ihm war, als komme der Zorn ihm nicht mehr zu, als sei er zum Tadel nicht so recht frei, sondern mitschuldig an dem Ärgernis und mitverantwortlich dafür vor den anderen, – kurzum, er schämte sich, und zwar wäre es ungenau gewesen, zu sagen, daß er sich für Frau Chauchat schämte, sondern ganz persönlich schämte er sich vor den Leuten, – was er sich übrigens hätte sparen können, da niemand im Saale sich um Frau Chauchats Laster noch um Hans Castorps Scham darüber kümmerte, ausgenommen etwa die Lehrerin, Fräulein Engelhart, zu seiner Rechten.
Das kümmerliche Wesen hatte begriffen, daß dank Hans Castorps Empfindlichkeit gegen das Türenwerfen eine gewisse affekthafte Beziehung des jungen Tischnachbarn zu der Russin entstanden war, ferner, daß es wenig auf den Charakter einer solchen Beziehung ankomme, wenn sie nur überhaupt vorhanden war, und endlich, daß seine geheuchelte – und zwar aus Mangel an schauspielerischer Übung und Begabung sehr schlecht geheuchelte – Gleichgültigkeit keine Abschwächung, sondern eine Verstärkung, eine höhere Phase des Verhältnisses bedeutete. Ohne Anspruch und Hoffnung für ihre eigene Person, erging Fräulein Engelhart sich beständig in selbstlos entzückten Reden über Frau Chauchat, – wobei das Merkwürdige war, daß Hans Castorp ihr hetzerisches Betreiben, wenn nicht sofort, so doch auf die Dauer, vollkommen klar erkannte und durchschaute, ja, daß es ihn sogar anwiderte, ohne daß er sich darum weniger willig hätte davon beeinflussen und betören lassen.
„Pardauz!“ sagte das alte Mädchen. „Das ist sie. Man braucht nicht aufzusehen, um sich zu überzeugen, wer da hereingekommen ist. Natürlich, da geht sie, – und wie reizend sie geht, – ganz wie ein Kätzchen zur Milchschüssel schleicht! Ich wollte, wir könnten die Plätze tauschen, damit Sie sie so ungezwungen und bequem betrachten könnten, wie ich es kann. Ich verstehe es ja, daß Sie nicht immer den Kopf nach ihr drehen mögen, – Gott weiß, was sie sich schließlich einbilden würde, wenn sie es merkte ... Jetzt sagt sie ihren Leuten Guten Tag ... Sie sollten doch einmal hinsehen, es ist so erquickend, sie zu beobachten. Wenn sie so lächelt und spricht wie jetzt, bekommt sie ein Grübchen in die eine Wange, aber nicht immer, nur wenn sie will. Ja, das ist ein Goldkind von einer Frau, ein verzogenes Geschöpf, daher ist sie so lässig. Solche Menschen muß man lieben, ob man will oder nicht, denn wenn sie einen ärgern durch ihre Lässigkeit, so ist auch der Ärger nur ein Anreiz mehr, ihnen zugetan zu sein, es ist so beglückend, sich zu ärgern und dennoch lieben zu müssen ...“
So raunte die Lehrerin hinter der Hand und ungehört von den anderen, während die flaumige Röte auf ihren Altjungferwangen an ihre übernormale Körpertemperatur erinnerte; und ihre wollüstigen Redereien gingen dem armen Hans Castorp in Mark und Blut. Eine gewisse Unselbständigkeit schuf ihm das Bedürfnis, von dritter Seite bestätigt zu erhalten, daß Madame Chauchat eine entzückende Frau sei, und außerdem wünschte der junge Mann, sich von außen zur Hingabe an Empfindungen ermutigen zu lassen, denen seine Vernunft und sein Gewissen störende Widerstände entgegensetzten.
Übrigens erwiesen sich diese Unterhaltungen in sachlicher Beziehung nur wenig fruchtbar, denn Fräulein Engelhart wußte beim besten Willen nichts Näheres über Frau Chauchat auszusagen, nicht mehr als jedermann im Sanatorium; sie kannte sie nicht, konnte sich nicht einmal einer Bekanntschaft rühmen, die sie mit ihr gemeinsam gehabt hätte, und das einzige, womit sie sich vor Hans Castorp ein Ansehen geben konnte, war, daß sie in Königsberg – also nicht gar so sehr weit von der russischen Grenze – zu Hause war und einige Brocken Russisch kannte, – dürftige Eigenschaften, in denen Hans Castorp aber etwas wie weitläufige persönliche Beziehungen zu Frau Chauchat zu sehen bereit war.
„Sie trägt keinen Ring,“ sagte er, „keinen Ehering, wie ich sehe. Wie ist denn das? Sie ist doch eine verheiratete Frau, haben Sie mir gesagt?“
Die Lehrerin geriet in Verlegenheit, als sei sie in die Enge getrieben und müsse sich herausreden, so sehr verantwortlich fühlte sie sich für Frau Chauchat Hans Castorp gegenüber.
„Das dürfen Sie nicht so genau nehmen“, sagte sie. „Zuverlässig ist sie verheiratet. Daran ist kein Zweifel möglich. Daß sie sich Madame nennt, geschieht nicht nur der größeren Ansehnlichkeit wegen, wie ausländische Fräulein es machen, wenn sie ein wenig reifer sind, sondern wir alle wissen es, daß sie wirklich einen Mann hat irgendwo in Rußland, das ist im ganzen Orte bekannt. Von Hause aus hat sie einen anderen Namen, einen russischen und keinen französischen, einen auf -anow oder -ukow, ich habe ihn schon gewußt und nur wieder vergessen; wenn Sie wollen, erkundige ich mich danach; es gibt sicher mehrere Personen hier, die den Namen kennen. Einen Ring? Nein, sie trägt keinen, es ist mir auch schon aufgefallen. Lieber Himmel, vielleicht kleidet er sie nicht, vielleicht macht er ihr eine breite Hand. Oder sie findet es spießbürgerlich, einen Ehering zu tragen, so einen glatten Reif ... es fehlt nur der Schlüsselkorb ... nein, dazu ist sie gewiß zu großzügig ... Ich kenne das, die russischen Frauen haben alle so etwas Freies und Großzügiges in ihrem Wesen. Außerdem hat so ein Ring etwas geradezu Abweisendes und Ernüchterndes, er ist doch ein Symbol der Hörigkeit, möchte ich sagen, er gibt einer Frau direkt etwas Nonnenhaftes, das reine Blümchen Rührmichnichtan macht er aus ihr. Ich wundere mich gar nicht, wenn das nicht nach Frau Chauchats Sinne ist ... Eine so reizende Frau, in der Blüte der Jahre ... Wahrscheinlich hat sie weder Grund noch Lust, jeden Herrn, dem sie die Hand gibt, gleich ihre eheliche Gebundenheit fühlen zu lassen ...“
Großer Gott, wie die Lehrerin sich ins Zeug legte! Hans Castorp sah ihr ganz erschreckt ins Gesicht, aber sie trotzte seinem Blick mit einer Art von wilder Verlegenheit. Dann schwiegen beide eine Weile, um sich zu erholen. Hans Castorp aß und unterdrückte das Zittern seines Kopfes. Endlich sagte er:
„Und der Mann? Er kümmert sich gar nicht um sie? Er besucht sie niemals hier oben? Was ist er denn eigentlich?“
„Beamter. Russischer Administrationsbeamter, in einem ganz entlegenen Gouvernement, Daghestan, wissen Sie, das liegt ganz östlich über den Kaukasus hinaus, dahin ist er kommandiert. Nein, ich sagte Ihnen ja, daß noch nie ihn jemand hier oben gesehen hat. Und dabei ist sie schon wieder im dritten Monat hier.“
„Sie ist also nicht zum erstenmal hier?“
„O nein, schon das drittemal. Und zwischendurch ist sie wieder wo anders, an ähnlichen Orten. – Umgekehrt, sie besucht ihn zuweilen, nicht oft, einmal im Jahre auf einige Zeit. Sie leben getrennt, kann man sagen, und sie besucht ihn zuweilen.“
„Nun ja, da sie krank ist ...“
„Gewiß, krank ist sie. Aber doch nicht so. Doch nicht so ernstlich krank, daß sie geradezu immer in Sanatorien und von ihrem Manne getrennt leben müßte. Das muß schon weitere und andere Gründe haben. Hier nimmt man allgemein an, daß es noch andere hat. Vielleicht gefällt es ihr nicht in Daghestan hinter dem Kaukasus, einer so wilden, entfernten Gegend, das wäre am Ende nicht zu verwundern. Aber ein wenig muß es doch auch an dem Manne liegen, wenn es ihr so gar nicht bei ihm gefällt. Er hat ja einen französischen Namen, aber darum ist er doch ein russischer Beamter, und das ist ein roher Menschenschlag, wie Sie mir glauben können. Ich habe einmal einen davon gesehen, er hatte so einen eisenfarbenen Backenbart und so ein rotes Gesicht ... Im höchsten Grade bestechlich sind sie, und dann haben sie es alle mit dem Wutki, dem Branntwein, wissen Sie ... Anstandshalber lassen sie sich eine Kleinigkeit zu essen geben, ein paar marinierte Pilze oder ein Stückchen Stör, und dazu trinken sie – einfach im Übermaß. Das nennen sie dann einen Imbiß ...“
„Sie schieben alles auf ihn“, sagte Hans Castorp. „Wir wissen aber doch nicht, ob es nicht vielleicht an ihr liegt, wenn sie nicht gut miteinander leben. Man muß gerecht sein. Wenn ich sie mir so ansehe und diese Unmanier mit dem Türenwerfen ... ich halte sie für keinen Engel, das nehmen Sie mir, bitte, nicht übel, ich traue ihr nicht über den Weg. Aber Sie sind nicht unparteiisch, Sie sitzen ja bis über die Ohren in Vorurteilen zu ihren Gunsten ...“
So machte er es zuweilen. Mit einer Schlauheit, die seiner Natur eigentlich fremd war, stellte er es so hin, als bedeute Fräulein Engelharts Schwärmerei für Frau Chauchat nicht das, was sie, wie er sehr wohl wußte, in Wirklichkeit bedeutete, sondern als sei diese Schwärmerei eine selbständige, drollige Tatsache, mit welcher er, der unabhängige Hans Castorp, die alte Jungfer aus kühlem und humoristischem Abstande necken konnte. Und da er sicher war, daß seine Helfershelferin diese dreiste Verdrehung gelten und sich gefallen lassen werde, so war nichts damit gewagt.
„Guten Morgen!“ sagte er. „Haben Sie wohl geruht? Ich hoffe, Sie haben von Ihrer schönen Minka geträumt? ... Nein, wie Sie gleich rot werden, wenn man sie nur erwähnt! Ganz vernarrt sind Sie in sie, das leugnen Sie nur lieber nicht!“
Und die Lehrerin, die wirklich errötet war und sich tief über ihre Tasse beugte, raunte aus ihrem linken Mundwinkel:
„Aber nein, pfui, Herr Castorp! Das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie mich so in Verlegenheit bringen mit Ihren Anspielungen. Alle merken es ja, daß wir es auf sie abgesehen haben, und daß Sie mir Dinge sagen, über die ich rot werden muß ...“
Es war sonderbar, was die beiden Tischnachbarn da trieben. Beide wußten, daß sie doppelt und dreifach logen, daß Hans Castorp nur, um von Frau Chauchat sprechen zu können, die Lehrerin mit ihr neckte, dabei aber ein ungesundes und übertragenes Vergnügen darin fand, mit dem alten Mädchen zu schäkern, – welches ihrerseits darauf einging: erstens aus kupplerischen Gründen, dann auch, weil sie sich dem jungen Manne zu Gefallen wohl wirklich etwas in Frau Chauchat vergafft hatte, und endlich, weil sie es kümmerlich genoß, sich irgendwie von ihm necken und rot machen zu lassen. Dies wußten sie beide von sich und vom anderen und wußten auch, daß jeder es von sich und vom anderen wisse, und das alles war verwickelt und unsauber. Aber obgleich Hans Castorp von verwickelten und unsauberen Dingen im ganzen angewidert wurde und sich auch in diesem Falle davon angewidert fühlte, so fuhr er doch fort, in dem trüben Elemente zu plätschern, indem er sich zur Beruhigung sagte, daß er ja nur zu Besuch hier oben sei und demnächst wieder abreisen werde. Mit erkünstelter Sachlichkeit beurteilte er kennerhaft das Äußere der „lässigen“ Frau, stellte fest, daß sie von vorn gesehen entschieden jünger und hübscher wirke als im Profil, daß ihre Augen zu weit auseinander lägen und ihre Haltung viel zu wünschen übriglasse, wofür allerdings ihre Arme schön und „weich geformt“ seien. Und indem er dies sagte, suchte er das Zittern seines Kopfes zu verbergen, wobei er aber nicht nur erkennen mußte, daß die Lehrerin seine vergebliche Anstrengung bemerkte, sondern auch mit dem größten Widerwillen die Wahrnehmung machte, daß sie selber ebenfalls mit dem Kopfe zitterte. Auch war es nichts als Politik und unnatürliche Schlauheit gewesen, daß er Frau Chauchat als „schöne Minka“ bezeichnet hatte; denn so konnte er weiter fragen:
„Ich sage ‚Minka‘, aber wie heißt sie denn eigentlich in Wirklichkeit. Ich meine mit Vornamen. So vernarrt, wie Sie unstreitig in sie sind, müssen Sie doch unbedingt ihren Vornamen wissen.“
Die Lehrerin dachte nach.
„Warten Sie, ich weiß ihn“, sagte sie. „Ich habe ihn gewußt. Heißt sie nicht Tatjana? Nein, das war es nicht, und auch nicht Natascha. Natascha Chauchat? Nein, so habe ichs nicht gehört. Halt, ich habe es! Awdotja heißt sie. Oder es war doch etwas in diesem Charakter. Denn Katjenka oder Ninotschka heißt sie nun einmal bestimmt nicht. Es ist mir wahrhaftig entfallen. Aber ich kann es mit Leichtigkeit in Erfahrung bringen, wenn Ihnen daran gelegen ist.“
Wirklich wußte sie am nächsten Tage den Namen. Sie sprach ihn beim Mittagessen aus, als die Glastür ins Schloß schmetterte. Frau Chauchat hieß Clawdia.
Hans Castorp verstand nicht gleich. Er ließ sich den Namen wiederholen und buchstabieren, bevor er ihn auffaßte. Dann sprach er ihn mehrmals nach, indem er dabei mit rot geäderten Augen zu Frau Chauchat hinüberblickte und ihn ihr gewissermaßen anprobierte.
„Clawdia,“ sagte er, „ja, so mag sie wohl heißen, es stimmt ganz gut.“ Er machte kein Hehl aus seiner Freude über die intime Kenntnis und sprach jetzt nur noch von „Clawdia“, wenn er Frau Chauchat meinte. „Ihre Clawdia dreht ja Brotkugeln, habe ich eben gesehen. Fein ist das nicht.“ „Es kommt darauf an, wer es tut“, antwortete die Lehrerin. „Clawdia steht es.“
Ja, die Mahlzeiten im Saal mit den sieben Tischen hatten den allergrößten Reiz für Hans Castorp. Er bedauerte es, wenn eine davon zu Ende ging, aber sein Trost war, daß er sehr bald, in zwei oder zweieinhalb Stunden, wieder hier sitzen werde, und wenn er wieder hier saß, so war es, als sei er nie aufgestanden. Was lag dazwischen? Nichts. Ein kurzer Spaziergang zum Wasserlauf oder ins Englische Viertel, ein wenig Ruhe im Stuhl. Das war keine ernste Unterbrechung, kein schwer zu nehmendes Hindernis. Etwas anderes, wenn Arbeit, irgendwelche Sorgen und Mühen sich vorgelagert hätten, die im Geiste nicht leicht zu übersehen, zu übergehen gewesen wären. Dies war jedoch nicht der Fall im klug und glücklich geregelten Leben des „Berghofs“. Hans Castorp konnte sich, wenn er von einer gemeinsamen Mahlzeit aufstand, ganz unmittelbar auf die nächste freuen, – sofern nämlich „sich freuen“ das richtige Wort war für die Art von Erwartung, mit der er dem neuen Zusammensein mit der kranken Frau Clawdia Chauchat entgegensah, und nicht ein zu leichtes, vergnügtes, einfältiges und gewöhnliches. Möglicherweise ist der Leser geneigt, nur solche Ausdrücke, nämlich vergnügte und gewöhnliche, in bezug auf Hans Castorps Person und sein Innenleben als passend und zulässig zu erachten; aber wir erinnern daran, daß er sich als ein junger Mann von Vernunft und Gewissen auf den Anblick und die Nähe Frau Chauchats nicht einfach „freuen“ konnte und, da wir es wissen müssen, stellen wir fest, daß er dies Wort, wenn man es ihm angeboten hätte, achselzuckend verworfen haben würde.
Ja, er wurde hochnäsig gegen gewisse Ausdrucksmittel, – das ist eine Einzelheit, die angemerkt zu werden verdient. Er ging umher, indes seine Wangen in trockener Hitze standen, und sang vor sich hin, sang in sich hinein, denn sein Befinden war musikalisch und sensitiv. Er summte ein Liedchen, das er, wer weiß wo und wann, in einer Gesellschaft oder bei einem Wohltätigkeitskonzert einmal von einer kleinen Sopranstimme gehört und jetzt in sich vorgefunden hatte, – einen sanften Unsinn, der anfing:
„Wie berührt mich wundersam
Oft ein Wort von dir“,
und er war im Begriffe, hinzuzusetzen:
„Das von deiner Lippe kam
Und zum Herzen mir!“ –
als er plötzlich die Achseln zuckte, „lächerlich“ sagte und das zarte Liedchen als abgeschmackt und läppisch empfindsam verwarf und von sich wies, – es mit einer gewissen Melancholie und Strenge von sich wies. An solchem innigen Liedchen mochte irgendein junger Mann Genüge und Gefallen finden, der „sein Herz“, wie man zu sagen pflegt, erlaubter-, friedlicher- und aussichtsreicherweise irgendeinem gesunden Gänschen dort unten im Flachlande „geschenkt“ hatte und sich nun seinen erlaubten, aussichtsreichen, vernünftigen und im Grunde vergnügten Empfindungen überließ. Für ihn und sein Verhältnis zu Madame Chauchat – das Wort „Verhältnis“ kommt auf seine Rechnung, wir lehnen die Verantwortung dafür ab – schickte sich ein solches Gedichtchen entschieden nicht; in seinem Liegestuhl fand er sich bewogen, das ästhetische Urteil „albern!“ darüber zu fällen und brach in der Mitte ab, indem er die Nase rümpfte, obgleich er nichts Geeigneteres dafür einzusetzen wußte.
Eins aber bereitete ihm Genugtuung, wenn er lag und auf sein Herz, sein körperliches Herz achtete, das rasch und vernehmlich in der Stille pochte, – der vorschriftsmäßigen Hausordnungsstille, die während der Haupt- und Schlafliegekur über dem ganzen „Berghof“ waltete. Es pochte hartnäckig und vordringlich, sein Herz, wie es das fast beständig tat, seitdem er hier oben war; doch nahm Hans Castorp neuerdings weniger Anstoß daran als in den ersten Tagen. Man konnte jetzt nicht mehr sagen, daß es auf eigene Hand, grundlos und ohne Zusammenhang mit der Seele klopfte. Ein solcher Zusammenhang war vorhanden oder doch unschwer herzustellen; eine rechtfertigende Gemütsbewegung ließ sich der exaltierten Körpertätigkeit zwanglos unterlegen. Hans Castorp brauchte nur an Frau Chauchat zu denken – und er dachte an sie –, so besaß er zum Herzklopfen das zugehörige Gefühl.