Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit
Hier steht eine Erscheinung bevor, über die der Erzähler sich selbst zu wundern gut tut, damit nicht der Leser auf eigene Hand sich allzusehr darüber wundere. Während nämlich unser Rechenschaftsbericht über die ersten drei Wochen von Hans Castorps Aufenthalt bei denen hier oben (einundzwanzig Hochsommertage, auf die sich menschlicher Voraussicht nach dieser Aufenthalt überhaupt hatte beschränken sollen) Räume und Zeitmengen verschlungen hat, deren Ausdehnung unseren eigenen halb eingestandenen Erwartungen nur zu sehr entspricht, – wird die Bewältigung der nächsten drei Wochen seines Besuches an diesem Orte kaum so viele Zeilen, ja Worte und Augenblicke erfordern, als jener Seiten, Bogen, Stunden und Tagewerke gekostet hat: im Nu, das sehen wir kommen, werden diese drei Wochen hinter uns gebracht und beigesetzt sein.
Dies also könnte wundernehmen; und doch ist es in der Ordnung und entspricht den Gesetzen des Erzählens und Zuhörens. Denn in der Ordnung ist es und diesen Gesetzen entspricht es, daß uns die Zeit genau so lang oder kurz wird, für unser Erlebnis sich genau ebenso breit macht oder zusammenschrumpft, wie dem auf so unerwartete Art vom Schicksal mit Beschlag belegten Helden unserer Geschichte, dem jungen Hans Castorp; und es mag nützlich sein, den Leser in Ansehung des Zeitgeheimnisses auf noch ganz andere Wunder und Phänomene, als das hier auffallende, vorzubereiten, die uns in seiner Gesellschaft zustoßen werden. Für jetzt genügt es, daß jedermann sich erinnert, wie rasch eine Reihe, ja eine „lange“ Reihe von Tagen vergeht, die man als Kranker im Bette verbringt: es ist immer derselbe Tag, der sich wiederholt; aber da es immer derselbe ist, so ist es im Grunde wenig korrekt, von „Wiederholung“ zu sprechen; es sollte von Einerleiheit, von einem stehenden Jetzt oder von der Ewigkeit die Rede sein. Man bringt dir die Mittagssuppe, wie man sie dir gestern brachte und sie dir morgen bringen wird. Und in demselben Augenblick weht es dich an – du weißt nicht, wie und woher; dir schwindelt, indes du die Suppe kommen siehst, die Zeitformen verschwimmen dir, rinnen ineinander, und was sich als wahre Form des Seins dir enthüllt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart, in welcher man dir ewig die Suppe bringt. Mit Bezug auf die Ewigkeit aber von Langerweile zu sprechen, wäre sehr paradox; und Paradoxe wollen wir meiden, besonders im Zusammenleben mit diesem Helden.
Hans Castorp also war bettlägrig seit Sonnabendnachmittag, da Hofrat Behrens, die oberste Autorität in der Welt, die uns einschließt, es so angeordnet hatte. Da lag er, sein Monogramm auf der Brusttasche seines Nachthemds, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, in seinem reinlichen, weißen Bett, dem Totenbett der Amerikanerin und wahrscheinlich noch mancher anderen Person, und blickte mit einfachen, vom Schnupfen getrübten blauen Augen zur Zimmerdecke empor, die Sonderbarkeit seiner Lebenslage betrachtend. Dabei ist nicht anzunehmen, daß seine Augen ohne Schnupfen klar, hell und unzweideutig geblickt hätten, denn so sah es in seinem Inneren, wie einfach dieses auch sein mochte, nicht aus, sondern in der Tat sehr trübe, verworren, undeutlich-halbaufrichtig und zweifelhaft. Bald erschütterte, wie er so dalag, ein tolles, tief aufsteigendes Triumphgelächter von innen her seine Brust, und sein Herz stockte und schmerzte von einer nie gekannten, ausschweifenden Freude und Hoffnung; bald wieder erblaßte er vor Schrecken und Bangen, und es waren die Schläge des Gewissens selbst, mit denen sein Herz in raschem, fliegendem Takt gegen die Rippen pochte.
Joachim ließ ihn am ersten Tage ganz in Ruhe und vermied jede Erörterung. Schonend trat er ein paarmal ins Krankenzimmer, nickte dem Liegenden zu und fragte der guten Form wegen, ob ihm was abgehe. Übrigens fiel es ihm um so leichter, Hans Castorps Scheu vor einer Auseinandersetzung zu erkennen und zu achten, als er sie teilte und sich nach seiner Auffassung sogar in einer peinlicheren Lage befand als dieser.
Aber am Sonntagvormittag, nach seiner Rückkehr von dem wie früher allein zurückgelegten Morgenspaziergang, verschob er es trotzdem nicht länger, das nun unmittelbar Notwendigste mit seinem Vetter zu beraten. Er stellte sich an dessen Bett und sagte aufseufzend:
„Ja, es hilft alles nichts, es müssen nun Schritte geschehen. Sie erwarten dich ja zu Hause.“
„Noch nicht“, antwortete Hans Castorp.
„Nein, aber in den nächsten Tagen, Mittwoch oder Donnerstag.“
„Ach,“ sagte Hans Castorp, „sie erwarten mich überhaupt nicht so genau auf den Tag. Die haben anderes zu tun, als auf mich zu warten und die Tage zu zählen, bis ich wiederkomme. Wenn ich komme, so bin ich da, und Onkel Tienappel sagt: ‚Da bist du ja auch wieder!‘ und Onkel James sagt: ‚Na, war’s schön.‘ Und wenn ich nicht komme, so dauert es lange, bis es ihnen auffällt, da kannst du sicher sein. Selbstverständlich müßte man sie mit der Zeit benachrichtigen ...“
„Du kannst dir denken,“ sagte Joachim und seufzte wieder, „wie unangenehm mir die Sache ist! Was soll denn jetzt werden? Natürlich fühle ich mich doch sozusagen verantwortlich. Du kommst hier herauf, um mich zu besuchen, und ich führe dich ein hier oben, und nun sitzst du fest, und niemand weiß, wann du wieder loskommst und deine Stelle antreten kannst. Du mußt einsehen, daß mir das im höchsten Grade peinlich ist.“
„Erlaube mir!“ sagte Hans Castorp, immer die Hände unter dem Kopf. „Was machst denn du dir für Kopfzerbrechen? Das ist doch Unsinn. Bin ich heraufgekommen, um dich zu besuchen? Auch; aber in erster Linie doch schließlich, um mich zu erholen, auf Vorschrift von Heidekind. Na, und nun zeigt sich eben, daß ich erholungsbedürftiger bin, als er und wir alle uns haben träumen lassen. Ich bin ja wohl nicht der erste, der glaubte, hier eine Stippvisite zu machen, und für den es dann anders kam. Denke doch nur zum Beispiel an Tous les deux’ zweiten Sohn, und wie es den hier denn doch noch ganz anders getroffen hat, – ich weiß nicht, ob er noch lebt, vielleicht haben sie ihn abgeholt während einer Mahlzeit. Daß ich etwas krank bin, ist mir ja eine Überraschung, ich muß mich erst darein finden, mich hier als Patient und richtig als einer von euch zu fühlen, statt, wie bisher, nur als Gast. Und dann überrascht es mich doch auch wieder fast gar nicht, denn so recht prachtvoll instand habe ich mich eigentlich niemals gefühlt, und wenn ich denke, wie früh meine beiden Eltern gestorben sind, – woher sollte die Pracht denn schließlich auch kommen! Daß du einen kleinen Knacks hast, nicht wahr, wenn er nun auch so gut wie kuriert ist, darüber machen wir uns ja alle nichts vor, und also kann es ja sein, daß es ein bißchen in unsrer Familie liegt, Behrens wenigstens machte so eine Bemerkung. Jedenfalls liege ich hier schon seit gestern und überlege mir, wie mir doch eigentlich immer zumute war und wie ich mich zu dem Ganzen verhielt, zum Leben, weißt du, und seinen Anforderungen. Ein gewisser Ernst und eine gewisse Abneigung gegen robustes und lautes Wesen lag immer in meiner Natur, – wir sprachen noch neulich davon, und daß ich manchmal fast Lust gehabt hätte, geistlich zu werden, aus Interesse für traurige und erbauliche Dinge, – so ein schwarzes Tuch, weißt du, mit einem silbernen Kreuz darauf oder R. I. P. ... Requiescat in pace ... das ist eigentlich das schönste Wort und mir viel sympathischer als ‚Hoch soll er leben‘, was doch mehr ein Radau ist. Das alles, denke ich mir, kommt wohl daher, daß ich selbst einen Knacks habe und mich von Anfang an auf die Krankheit verstehe, – es zeigt sich bei dieser Gelegenheit. Aber wenn es sich nun doch so verhält, so kann ich ja von Glück sagen, daß ich heraufgekommen bin und mich habe untersuchen lassen; du brauchst dir nicht die geringsten Vorwürfe deswegen zu machen. Denn du hast ja gehört: wenn ich es im Flachland noch eine Weile so weiter getrieben hätte, so wäre womöglich mir nichts dir nichts mein ganzer Lungenlappen zum Teufel gegangen.“
„Das kann man nicht wissen!“ sagte Joachim. „Das ist es ja eben, daß man das gar nicht wissen kann! Du sollst ja früher schon Stellen gehabt haben, um die sich niemand gekümmert hat und die ganz von selbst verheilt sind, so daß du jetzt nur noch ein paar gleichgültige Dämpfungen davon hast. So wäre es möglicherweise auch mit der feuchten Stelle gegangen, die du jetzt haben sollst, wenn du nicht zufällig zu mir heraufgekommen wärst, – man kann es nicht wissen!“
„Nein, wissen kann man gar nichts“, antwortete Hans Castorp. „Und darum hat man kein Recht, das Ärgerlichste in Ansatz zu bringen, zum Beispiel auch was die Dauer meines Kuraufenthaltes betrifft. Du sagst, niemand weiß, wann ich loskomme und auf der Werft eintreten kann, aber du sagst es im pessimistischen Sinn, und das finde ich voreilig, da man es ja eben nicht wissen kann. Behrens hat keinen Termin genannt, er ist ein besonnener Mann und spielt nicht den Wahrsager. Es hat ja auch die Durchleuchtung und photographische Aufnahme noch gar nicht stattgefunden, die erst den Sachverhalt objektiv klarstellen wird, und wer weiß, ob da etwas Nennenswertes zutage kommt und ob ich nicht vorher schon fieberfrei bin und euch Adieu sagen kann. Ich bin dafür, daß wir uns nicht vor der Zeit aufspielen und denen zu Hause nicht gleich die größten Räubergeschichten erzählen. Es genügt, wenn wir nächstens mal schreiben – ich kann selbst schreiben, mit der Füllfeder hier, wenn ich mich etwas aufsetze –, daß ich stark erkältet und febril und bettlägrig bin und vorderhand noch nicht reisen kann. Das Weitere findet sich.“
„Gut,“ sagte Joachim, „so können wir’s vorläufig machen. Und dann können wir ja auch mit dem anderen noch etwas zuwarten.“
„Mit welchem anderen?“
„Sei nicht so gedankenlos! Du bist doch nur auf drei Wochen eingerichtet mit deinem Kajütenkoffer. Du brauchst Wäsche, Unter- und Oberwäsche und Winterkleider, und brauchst mehr Schuhzeug. Schließlich, auch Geld mußt du dir kommen lassen.“
„Wenn,“ sagte Hans Castorp, „wenn ich das alles brauche.“
„Gut, warten wir’s ab. Aber wir sollten ... nein,“ sagte Joachim und ging in Bewegung durchs Zimmer, „wir sollten uns keine Illusionen machen! Ich bin zu lange hier, um nicht Bescheid zu wissen. Wenn Behrens sagt, daß da eine rauhe Stelle ist, beinah ein Geräusch ... Aber selbstverständlich, wir können ja zusehen!“ –
Dabei blieb es für diesmal, und vorderhand traten die acht- und vierzehntägigen Abwandlungen des Normaltages in ihre Rechte, – auch in seiner gegenwärtigen Lage hatte Hans Castorp teil daran, wo nicht durch unmittelbaren Mitgenuß, so durch Berichte, die Joachim abstattete, wenn er ihn besuchte und sich für eine Viertelstunde auf seine Bettkante setzte.
Das Teebrett, worauf man ihm am Sonntagmorgen sein Frühstück brachte, war mit einem Blumenväschen geschmückt, und man hatte nicht versäumt, ihm von dem Feingebäck zu schicken, das heute im Saale gereicht wurde. Später wurde es drunten im Garten und auf der Terrasse lebendig, und mit Trara und Klarinettengenäsel setzte das vierzehntägige Sonntagskonzert ein, zu dem Joachim sich bei seinem Vetter einfand: er nahm die Darbietung bei offener Balkontür draußen in der Loge entgegen, während Hans Castorp von seinem Bette aus, halb sitzend, den Kopf auf die Seite gelegt und liebevoll-andächtig verschwimmenden Blickes den heraufdrängenden Harmonien lauschte, nicht ohne innerlich achselzuckend der Redereien Settembrinis von der „politischen Verdächtigkeit“ der Musik zu gedenken.
Im übrigen, wie wir sagten, ließ er sich von Joachim über die Erscheinungen und Veranstaltungen dieser Tage Bericht erstatten, fragte ihn aus, ob der Sonntag festliche Toiletten gebracht habe, Spitzenmatinees oder dergleichen (für Spitzenmatinees war es jedoch zu kalt gewesen); auch ob nachmittags Wagenfahrten stattgefunden hätten (wirklich waren welche unternommen worden: der Verein „Halbe Lunge“ war in corpore nach Clavadell ausgeflogen); und am Montag verlangte er, von Dr. Krokowskis Conférence zu hören, als Joachim davon zurückkehrte und, bevor er in die Mittagsliegekur ging, bei ihm vorsprach. Joachim zeigte sich mundfaul und abgeneigt, über den Vortrag zu berichten, – wie ja auch von dem vorigen weiter nicht zwischen den beiden die Rede gewesen war. Aber Hans Castorp bestand darauf, Einzelheiten zu hören. „Ich liege hier und zahle den vollen Preis“, sagte er. „Ich will auch etwas haben von dem, was geboten wird.“ Er erinnerte sich an den Montag vor vierzehn Tagen, an seinen selbständigen Spaziergang, der ihm so wenig gut getan, und gab der bestimmten Vermutung Ausdruck, daß er es eigentlich gewesen sei, der revolutionierend auf seinen Körper gewirkt und die still vorhandene Krankheit zum Ausbruch gebracht habe. „Aber wie die Leute hier reden,“ rief er; „das niedere Volk, – so würdig und feierlich: es klingt zuweilen wie Poesie. ‚Nun, so leb’ wohl und hab’ Dank!‘“ wiederholte er, indem er die Sprechweise des Holzknechtes nachahmte. „So habe ich es im Walde gehört, und ich vergesse es meiner Lebtage nicht. Dergleichen verbindet sich dann mit anderen Eindrücken oder Erinnerungen, weißt du, und man behält es bis an sein Lebensende im Ohr. – Und Krokowski hat also wieder von ‚Liebe‘ gesprochen?“ fragte er und schnitt ein Gesicht bei dem Wort.
„Selbstredend“, sagte Joachim. „Wovon denn sonst. Es ist ja nun einmal sein Thema.“
„Was sagte er denn heute davon?“
„Ach, nichts Besonderes. Du weißt ja selbst, vom vorigen Mal, wie er sich ausdrückt.“
„Aber was gab er denn Neues zum besten?“
„Nichts weiter Neues ... Ja, es war die reine Chemie, was er heute verzapfte“, ließ Joachim sich widerstrebend herbei, zu berichten. Es handele sich „dabei“ um eine Art von Vergiftung, von Selbstvergiftung des Organismus, habe Dr. Krokowski gesagt, die so entstehe, daß ein noch unbekannter, im Körper verbreiteter Stoff Zersetzung erfahre; und die Produkte dieser Zersetzung wirkten berauschend auf gewisse Rückenmarkszentren ein, nicht anders, als wie es sich bei der gewohnheitsmäßigen Einführung von fremden Giftstoffen, Morphin oder Kokain, verhalte.
„Und dann kriegt man heitere Bäckchen!“ sagte Hans Castorp. „Sieh an, das ist ja hörenswert. Was der nicht alles weiß –. Er hat es mit Löffeln gegessen. Warte nur, eines Tages entdeckt er dir noch den unbekannten Stoff, der im ganzen Körper verbreitet ist, und stellt die löslichen Gifte her, die berauschend aufs Zentrum wirken, dann kann er die Leute auf eine besondere Weise beschwipsen. Vielleicht war man früher schon einmal so weit. Wenn man ihn hört, so könnte man denken, daß etwas Wahres ist an den Geschichten von Liebestränken und solchem Zeug, wovon in den Sagenbüchern die Rede ist ... Gehst du schon?“
„Ja,“ sagte Joachim, „ich muß unbedingt noch etwas liegen. Ich habe ansteigende Kurve seit gestern. Die Sache mit dir hat mir doch etwas zugesetzt.“ –
Das war der Sonntag, der Montag. Aus Abend und Morgen wurde der dritte Tag von Hans Castorps Aufenthalt in der „Remise“, ein Wochentag ohne Auszeichnung, der Dienstag. Es war aber der Tag seiner Ankunft hier oben, er war nun rund drei Wochen an diesem Ort, und so trieb es ihn doch, den Brief nach Hause zu schreiben und seine Onkel wenigstens obenhin und für den Augenblick über den Stand der Dinge zu unterrichten. Sein Plumeau im Rücken, schrieb er auf einem Briefbogen der Anstalt, daß seine Abreise von hier sich planwidrig verzögere. Er liege mit einer fieberigen Erkältung, die von Hofrat Behrens, übergewissenhaft, wie er wohl sei, offenbar nicht ganz auf die leichte Achsel genommen werde, da er sie mit seiner, des Schreibers, Konstitution überhaupt in Zusammenhang bringe. Denn gleich bei der ersten Bekanntschaft habe der dirigierende Arzt ihn stark anämisch gefunden, und alles in allem scheine es, als ob maßgeblicherseits die von ihm, Hans Castorp, zu seiner Erholung angesetzte Frist nicht für recht ausreichend erachtet werde. Weiteres ehetunlichst. – So ist es gut, dachte Hans Castorp. Da ist kein Wort zu viel und doch hält es auf jeden Fall eine Weile vor. – Der Brief wurde dem Hausdiener übergeben, der ihn unter Vermeidung des Umweges über den Kasten unmittelbar zum nächsten fahrplanmäßigen Zug beförderte.
Hiernach schien unserem Abenteurer vieles geordnet, und mit beschwichtigtem Gemüt, wenn auch geplagt von Husten und Schnupfendumpfheit, lebte er abwartend in den Tag hinein, den vielfach in kurze Stückchen geteilten und in seiner feststehenden Einförmigkeit weder kurz- noch langweiligen Normaltag, der immer derselbe war. Morgens trat nach mächtigem Anklopfen der Bademeister herein, ein nerviges Individuum namens Turnherr, mit aufgerollten Hemdärmeln, hochgeäderten Unterarmen und einer gurgelnden, schwer behinderten Sprechart, der Hans Castorp, wie alle Patienten, mit seiner Zimmernummer anredete und ihn mit Alkohol abrieb. Nicht lange nach seinem Abgang erschien Joachim, fertig angezogen, um Guten Morgen zu sagen, nach seines Vetters Sieben-Uhr-früh-Temperatur zu fragen und seine eigene mitzuteilen. Während er drunten frühstückte, tat Hans Castorp, sein Plumeau im Rücken, mit dem Appetit, den eine neue Lebenslage erzeugt, dasselbe –, kaum gestört durch den geschäftig-geschäftsmäßigen Einbruch der Ärzte, die um diese Zeit den Speisesaal passiert hatten und ihren Rundgang durch die Zimmer der Bettlägrigen und Moribunden im Geschwindschritt zurücklegten. Den Mund voll Eingemachtem, bekundete er, „schön“ geschlafen zu haben, sah über den Rand seiner Tasse hin zu, wie der Hofrat, der seine Fäuste auf die Platte des Mitteltisches stemmte, rasch die dort aufliegende Fiebertabelle prüfte, und erwiderte gleichmütig gedehnten Tones den Morgengruß der Abziehenden. Dann zündete er sich eine Zigarette an und sah Joachim schon von seinem morgendlichen Dienstgang wieder zurückkehren, wenn er kaum gedacht hatte, daß er fortgegangen sei. Wieder plauderten sie dies und das, und der Zeit-Zwischenraum bis zum zweiten Frühstück – Joachim hielt Liegekur unterdessen – war so kurz, daß selbst ein ausgemachter Hohlkopf und Geistesarmer es nicht zur Langenweile gebracht haben würde, – während doch Hans Castorp an den Eindrücken seiner ersten drei Wochen hier oben reichlich zu zehren, auch seine gegenwärtige Lebenslage und was etwa daraus werden mochte, innerlich zu bearbeiten hatte und der beiden dicken Bände einer illustrierten Zeitschrift kaum bedurft hätte, die, der Anstaltsbibliothek entstammend, auf seinem Nachttisch lagen.
Nichts anderes gilt für die Zeitspanne, während der Joachim seinen zweiten Gang nach Platz Davos absolvierte, ein leichtes Stündchen. Er sprach dann wieder vor bei Hans Castorp und erzählte von dem und jenem, was ihm im Spazieren auffällig geworden, stand oder saß einen Augenblick am Krankenbette, bevor er in die Mittagsliegekur ging, – und wie lange dauerte die? Nur wieder ein Stündchen! Man hatte kaum, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, ein wenig zur Decke geblickt und einem Gedanken nachgehangen, so dröhnte das Gong, das die nicht Bettlägrigen und Moribunden aufforderte, sich zur großen Mahlzeit instandzusetzen.
Joachim ging, und es kam die „Mittagssuppe“: ein einfältig symbolischer Name für das, was kam! Denn Hans Castorp war nicht auf Krankenkost gesetzt, – warum auch hätte man ihn darauf setzen sollen? Krankenkost, schmale Kost war auf keine Art indiziert bei seinem Zustande. Er lag hier und zahlte den vollen Preis, und was man ihm bringt in der stehenden Ewigkeit dieser Stunde, das ist keine „Mittagssuppe“, es ist das sechsgängige Berghof-Diner ohne Abzug und in aller Ausführlichkeit, – am Alltage üppig, am Sonntage ein Gala-, Lust- und Parademahl, von einem europäisch erzogenen Chef in der Luxushotelküche der Anstalt bereitet. Die Saaltochter, deren Amt es war, die Bettlägrigen zu versorgen, brachte es ihm unter vernickelten Hohldeckeln und in leckeren Tiegeln; sie schob den Krankentisch, der sich eingefunden, dies einbeinige Wunder von Gleichgewichtskonstruktion, quer über sein Bett vor ihn hin, und Hans Castorp tafelte daran wie der Sohn des Schneiders am Tischlein deck dich.
Kaum hatte er abgespeist, so kehrte auch Joachim zurück, und bis dieser in seine Loggia ging und die Stille der großen Liegekur sich über Haus „Berghof“ senkte, war es soviel wie halb drei geworden. Nicht ganz, vielleicht; genau genommen wohl erst ein Viertel über zwei. Aber solche überzähligen Viertelstunden außerhalb runder Einheiten werden nicht mitgerechnet, sondern nebenbei verschlungen, wo großzügige Zeitwirtschaft herrscht, wie etwa auf Reisen, bei vielstündiger Bahnfahrt oder sonst in leerem, wartendem Zustande, wenn alles Streben und Leben aufs Hinbringen und Zurücklegen von Zeit zurückgeführt ist. Ein Viertel über zwei Uhr – das gilt für halb drei; es gilt in Gottes Namen auch gleich für drei Uhr, da schon die Drei im Spiele ist. Die dreißig Minuten werden als Auftakt zur runden Stunde von drei bis vier Uhr verstanden und innerlich beseitigt: so macht man es unter solchen Umständen. Und so beschränkte sich denn die Dauer der großen Liegekur schließlich und eigentlich wieder auf eine Stunde, – die übrigens an ihrem Ende vermindert, weggestutzt und gleichsam apostrophiert wurde. Der Apostroph war Dr. Krokowski.
Ja, Dr. Krokowski beschrieb auf seinem selbständigen Nachmittagsrundgang keinen Bogen mehr um Hans Castorp. Dieser zählte nun mit, er war nicht länger ein Intervall und Hiatus, er war Patient, er wurde gefragt und nicht links liegengelassen, wie es zu seinem geheimen und leichten, aber täglich wieder empfundenen Ärger so lange geschehen war. Es war am Montag gewesen, daß Dr. Krokowski zum erstenmal im Zimmer erschienen war, – wir sagen „erschienen“, denn das ist das rechte Wort für den sonderbaren und sogar etwas entsetzlichen Eindruck, dessen Hans Castorp sich damals nicht hatte erwehren können. Er hatte im Halb- oder Viertelschlummer gelegen, als er aufschreckend gewahrte, daß der Assistent im Zimmer war, ohne durch die Tür hereingelangt zu sein, und von der Außenseite her auf ihn zuschritt. Denn sein Weg war nicht über den Korridor, sondern durch die äußeren Loggien gewesen, und durch die offene Balkontür war er eingetreten, so daß sich die Vorstellung aufdrängte, als sei er durch die Lüfte gekommen. Da hatte er nun jedenfalls an Hans Castorps Lager gestanden, schwarzbleich, breitschultrig und stämmig, der Apostroph der Stunde, und in seinem geteilten Bart waren gelblich und mannhaft lächelnd die Zähne zu sehen gewesen.
„Sie scheinen überrascht, mich zu sehen, Herr Castorp,“ hatte er mit baritonaler Milde, schleppend, unbedingt etwas geziert und mit einem exotischen Gaumen-r gesprochen, das er jedoch nicht rollte, sondern durch ein nur einmaliges Anschlagen der Zunge gleich hinter den oberen Vorderzähnen erzeugte; „ich erfülle aber lediglich eine angenehme Pflicht, wenn ich bei Ihnen nun auch nach dem Rechten sehe. Ihr Verhältnis zu uns ist in eine neue Phase getreten, über Nacht ist aus dem Gaste ein Kamerad geworden ...“ (Das Wort „Kamerad“ hatte Hans Castorp etwas geängstigt.) „Wer hätte es gedacht!“ hatte Dr. Krokowski kameradschaftlich gescherzt ... „Wer hätte es gedacht an dem Abend, als ich Sie zuerst begrüßen durfte und Sie meiner irrigen Auffassung – damals war sie irrig – mit der Erklärung begegneten, Sie seien vollkommen gesund. Ich glaube, ich drückte damals etwas wie einen Zweifel aus, aber, ich versichere Sie, ich meinte es nicht so! Ich will mich nicht scharfsichtiger hinstellen, als ich bin, ich dachte damals an keine feuchte Stelle, ich meinte es anders, allgemeiner, philosophischer, ich verlautbarte meinen Zweifel daran, daß ‚Mensch‘ und ‚vollkommene Gesundheit‘ überhaupt Reimworte seien. Und auch heute noch, auch nach dem Verlauf Ihrer Untersuchung, kann ich, wie ich nun einmal bin, und im Unterschiede von meinem verehrten Chef, diese feuchte Stelle da“ – und er hatte mit der Fingerspitze leicht Hans Castorps Schulter berührt – „nicht als im Vordergrunde des Interesses stehend erachten. Sie ist für mich eine sekundäre Erscheinung ... Das Organische ist immer sekundär ...“
Hans Castorp war zusammengezuckt.
„... Und also ist Ihr Katarrh in meinen Augen eine Erscheinung dritter Ordnung“, hatte Dr. Krokowski sehr leicht hinzugefügt. „Wie steht es damit? Die Bettruhe wird in dieser Hinsicht gewiß rasch das ihre tun. Was haben Sie heute gemessen?“ Und von da an hatte der Besuch des Assistenten den Charakter einer harmlosen Kontrollvisite getragen, wie er ihn denn auch in den folgenden Tagen und Wochen beständig trug: Dr. Krokowski kam ¾4 Uhr oder auch schon etwas früher über den Balkon herein, begrüßte den Liegenden auf mannhaft heitere Art, stellte die einfachsten ärztlichen Fragen, leitete auch wohl ein kurzes, persönlicher bestimmtes Geplauder ein, scherzte kameradschaftlich, – und wenn alles dies eines Anfluges von Bedenklichkeit nicht entbehrte, so gewöhnt man sich endlich auch an das Bedenkliche, falls es in seinen Grenzen bleibt, und Hans Castorp fand bald nichts mehr gegen das regelmäßige Erscheinen Dr. Krokowskis zu erinnern, das nun einmal zum stehenden Normaltage gehörte und die Stunde der großen Liegekur apostrophierte.
Es war also 4 Uhr, wenn der Assistent wieder auf den Balkon zurücktrat, – das heißt tiefer Nachmittag! Plötzlich und eh mans gedacht, war es tiefer Nachmittag, – der sich übrigens ungesäumt ins annähernd Abendliche vertiefte: denn bis der Tee getrunken war, drunten im Saal und auf Nummer 34, ging es stärkstens auf 5 Uhr und, bis Joachim von seinem dritten Dienstgange zurückkehrte und bei seinem Vetter wieder vorsprach, immerhin so stark auf 6, daß sich die Liegekur bis zum Abendessen, wenn man nur ein wenig rund rechnete, wieder auf eine Stunde beschränkte, – eine spielend aus dem Felde zu schlagende Zeitgegnerschaft, wenn man Gedanken im Kopf und außerdem einen ganzen orbis pictus auf dem Nachttische hat.
Joachim verabschiedete sich zur Mahlzeit. Das Essen wurde gebracht. Das Tal hatte sich längst mit Schatten gefüllt, und während Hans Castorp aß, dunkelte es zusehens im weißen Zimmer. Er saß, wenn er fertig war, in sein Plumeau gelehnt, vor dem abgegessenen Tischleindeckdich und blickte in die rasch zunehmende Dämmerung, die Dämmerung von heute, die von der gestrigen, vorgestrigen oder der vor acht Tagen nur schwer zu unterscheiden war. Es war Abend, – nachdem es eben noch Morgen gewesen. Der zerkleinerte und künstlich kurzweilig gemachte Tag war ihm buchstäblich unter den Händen zerbröckelt und zunichte geworden, wie er mit heiterer Verwunderung oder allenfalls nachdenklich bemerkte; denn Grauen hiervor war seinen Jahren noch fremd. Ihm war nur, als blicke er „immer noch“.
Eines Tages, es mochten zehn oder zwölf vergangen sein, seit Hans Castorp bettlägrig geworden war, pochte es um diese Stunde, das heißt: bevor Joachim vom Abendessen und von der Geselligkeit zurückgekehrt war, an die Stubentür, und auf Hans Castorps fragendes Herein erschien Lodovico Settembrini auf der Schwelle, – wobei es mit einem Schlage blendend hell im Zimmer wurde. Denn des Besuchers erste Bewegung, bei noch offener Tür, war gewesen, daß er das Deckenlicht eingeschaltet hatte, welches, von dem Weiß der Decke, der Möbel zurückgeworfen, den Raum im Nu mit zitternder Klarheit überfüllte.
Der Italiener war die einzige Persönlichkeit unter den Kurgästen, nach der Hans Castorp sich in diesen Tagen ausdrücklich und namentlich bei Joachim erkundigt hatte. Joachim berichtete ihm ja ohnedies, sooft er für zehn Minuten auf seines Vetters Bettrand saß oder neben ihm stand – und das geschah zehnmal am Tage – von den kleinen Vorkommnissen und Schwankungen im Alltagsleben der Anstalt, und soweit Hans Castorp Fragen gestellt hatte, waren sie allgemeiner und unpersönlicher Art gewesen. Die Neugier des Isolierten ging dahin, zu wissen, ob etwa neue Gäste angekommen oder von den vertrauten Physiognomien jemand abgereist sei; und es schien ihn zu befriedigen, daß nur jenes der Fall war. Ein „Neuer“ war eingetroffen, ein junger Mann, grünlich und hohl von Gesicht, und hatte seinen Platz am Tische der elfenbeinernen Levi und der Frau Iltis, gleich rechts von dem der Vettern erhalten. Nun, Hans Castorp konnte es erwarten, ihn in Augenschein zu nehmen. Abgereist war also niemand? Joachim verneinte kurz, indem er die Augen niederschlug. Aber er mußte die Frage mehrmals beantworten, eigentlich jeden zweiten Tag, obgleich er schließlich, eine gewisse Ungeduld in der Stimme, ein für allemal Bescheid zu geben versucht und gesagt hatte, seines Wissens stehe niemand vor der Abreise, so schlankerhand werde hier überhaupt ja nicht abgereist.
Was Settembrini betraf, so hatte also Hans Castorp persönlich nach ihm gefragt und zu hören verlangt, was jener „dazu gesagt“ habe. Wozu? „Nun, daß ich hier liege und krank sein soll.“ Wirklich hatte Settembrini sich geäußert, wenn auch sehr knapp. Gleich am Tage von Hans Castorps Verschwinden war er an Joachim mit der Frage nach dem Verbleib des Gastes herangetreten, wobei er sichtlich zu erfahren bereit gewesen war, daß Hans Castorp abgereist sei. Auf Joachims Erklärungen hatte er nur mit zwei italienischen Wörtern erwidert: zuerst hatte er „Ecco“ und dann „Poveretto“ gesagt, zu deutsch: „da haben wir’s“ und „armer Kleiner“, – man brauchte nicht mehr Italienisch zu verstehen als die beiden jungen Leute, um den Sinn dieser beiden Äußerungen zu erfassen. „Wieso ‚poveretto‘?“ hatte Hans Castorp gesagt. „Er sitzt doch auch hier oben mit seiner Literatur, die aus Humanismus und Politik besteht, und kann die irdischen Lebensinteressen wenig fördern. Er sollte mich nur nicht so von oben herab bemitleiden, ich komme immer noch früher ins Flachland als er.“
Nun also stand Herr Settembrini im jäh erleuchteten Zimmer, – Hans Castorp, der sich auf den Ellbogen gestützt und zur Tür gewandt hatte, erkannte ihn blinzelnd und errötete, als er ihn erkannte. Wie immer trug Settembrini seinen dicken Rock mit den großen Aufschlägen, einen etwas schadhaften Umlegekragen dazu und die karierten Hosen. Da er vom Essen kam, hielt er nach seiner Gewohnheit einen hölzernen Zahnstocher zwischen den Lippen. Sein Mundwinkel unter der schönen Schnurrbartbiegung war zu dem bekannten feinen, nüchternen und kritischen Lächeln gespannt.
„Guten Abend, Ingenieur! Ist es erlaubt, sich nach Ihnen umzusehen? Wenn ja, so bedarf es dazu des Lichtes, – verzeihen Sie meine Eigenmächtigkeit!“ sagte er, indem er die kleine Hand schwunghaft zur Deckenlampe emporwarf. „Sie kontemplierten, – ich möchte beileibe nicht stören. Neigung zur Nachdenklichkeit wäre mir ganz begreiflich in Ihrem Fall, und zum Plaudern haben Sie schließlich Ihren Vetter. Sie sehen, meine Überflüssigkeit ist mir vollkommen deutlich. Trotzdem, man lebt auf so engem Raum beieinander, man faßt Teilnahme von Mensch zu Mensch, geistige Teilnahme, Herzensteilnahme ... Es ist eine gute Woche, daß man Sie nicht sieht. Ich fing wahrhaftig an, mir einzubilden, Sie seien abgereist, als ich Ihren Platz drunten im Refektorium leer sah. Der Leutnant belehrte mich eines Besseren, hm, eines weniger Guten, wenn das nicht unhöflich klingt ... Kurz, wie geht es? Was treiben Sie? Wie fühlen Sie sich? Doch nicht allzu niedergeschlagen?“
„Sie sind es, Herr Settembrini! Das ist ja freundlich. Ha, ha, ‚Refektorium‘? Da haben Sie gleich wieder einen Witz gemacht. Nehmen Sie den Stuhl, bitte. Sie stören mich keine Spur. Ich lag da und sinnierte, – sinnieren ist schon viel zu viel gesagt. Ich war einfach zu faul, das Licht anzudrehen. Danke vielmals, es geht mir subjektiv so gut wie normal. Mein Schnupfen ist beinahe behoben durch die Bettruhe, aber er soll ja eine sekundäre Erscheinung sein, wie ich allgemein höre. Die Temperatur ist eben immer noch nicht, wie sie sein sollte, mal 37,5, mal 37,7, das hat sich in diesen Tagen noch nicht geändert.“
„Sie nehmen regelmäßig Messungen vor?“
„Ja, sechsmal am Tage, ganz wie sie alle hier oben. Haha, entschuldigen Sie, ich muß noch lachen darüber, daß Sie unsern Speisesaal ‚Refektorium‘ nannten. So sagt man doch im Kloster, nicht? Davon hat es hier wirklich etwas, – ich war ja noch nie in einem Kloster, aber so ähnlich stelle ich es mir vor. Und die ‚Regeln‘ habe ich auch schon am Schnürchen und beobachte sie ganz genau.“
„Wie ein frommer Bruder. Man kann sagen, Ihr Noviziat ist beendet, Sie haben Profeß getan. Meine feierliche Gratulation. Sie sagen ja auch schon ‚unser Speisesaal‘. Übrigens – ohne Ihrer Manneswürde zu nahe treten zu wollen – erinnern Sie mich fast mehr an ein junges Nönnlein als an einen Mönch, – an so ein eben geschorenes, unschuldiges Bräutchen Christi mit großen Opferaugen. Ich habe früher hie und da solche Lämmer gesehen nie ohne ... nie ohne eine gewisse Sentimentalität. Ah, ja, ja, Ihr Herr Vetter hat mir alles erzählt. Sie haben sich also im letzten Moment noch untersuchen lassen.“
„Da ich febril war –. Ich bitte Sie, Herr Settembrini, bei einem solchen Katarrh hätte ich mich in der Ebene an unseren Arzt gewandt. Und hier, wo man sozusagen an der Quelle sitzt, wo zwei Spezialisten im Hause sind, – es wäre doch komisch gewesen ...“
„Versteht sich, versteht sich. Und gemessen hatten Sie sich also schon, bevor man es Ihnen aufgetragen. Man hatte es Ihnen übrigens sofort empfohlen. Das Thermometer hat Ihnen die Mylendonk zugesteckt?“
„Zugesteckt? Da der Bedarfsfall vorlag, habe ich ihr eines abgekauft.“
„Ich verstehe. Ein einwandfreies Handelsgeschäft. Und wieviel Monate hat der Chef Ihnen aufgebrummt? ... Großer Gott, so habe ich Sie schon einmal gefragt! Erinnern Sie sich? Sie waren frisch angekommen. Sie antworteten so keck damals ...“
„Natürlich weiß ich das noch, Herr Settembrini. Viel Neues habe ich seitdem erlebt, aber das weiß ich doch noch wie heute. Gleich damals waren Sie so amüsant und machten Hofrat Behrens zum Höllenrichter ... Rhadames ... Nein, warten Sie, das ist was anderes ...“
„Rhadamanthys? Mag sein, daß ich ihn beiläufig so nannte. Ich behalte nicht alles, was mein Kopf gelegentlich hervorsprudelt.“
„Rhadamanthys, natürlich! Minos und Rhadamanthys! Auch von Carducci erzählten Sie uns damals gleich ...“
„Erlauben Sie, lieber Freund, den wollen wir beiseite lassen. Der Name nimmt sich in diesem Augenblick gar zu fremdartig aus in Ihrem Munde!“
„Auch gut“, lachte Hans Castorp. „Ich habe durch Sie aber doch viel über ihn gelernt. Ja, damals hatte ich keine Ahnung und antwortete Ihnen, ich sei auf drei Wochen gekommen, anders wußte ich’s nicht. Gerade hatte die Kleefeld mich zur Begrüßung mit dem Pneumothorax angepfiffen, davon war ich etwas außer mir. Aber auch febril fühlte ich mich damals gleich, denn die Luft hier ist ja nicht nur gut gegen die Krankheit, sie ist auch gut für die Krankheit, manchmal bringt sie sie erst zum Ausbruch, und das ist am Ende wohl nötig, wenn Heilung eintreten soll.“
„Eine bestechende Hypothese. Hat Hofrat Behrens Ihnen auch von der Deutschrussin erzählt, die wir voriges Jahr, – nein: vorvoriges Jahr fünf Monate hier hatten? Nicht? Das hätte er tun sollen. Eine liebenswürdige Dame, deutschrussisch ihrer Abstammung nach, verheiratet, junge Mutter. Sie kam aus dem Osten hierher, lymphatisch, blutarm, es lag auch wohl etwas Ernsthafteres vor. Nun, sie lebt einen Monat hier und klagt, sie fühle sich schlecht. Nur Geduld! Es vergeht ein zweiter Monat, und sie behauptet fortgesetzt, daß es ihr nicht besser, sondern schlechter geht. Ihr wird bedeutet, wie es ihr gehe, könne einzig und allein der Arzt beurteilen; sie könne nur angeben, wie sie sich fühle, – und daran sei wenig gelegen. Mit ihrer Lunge sei man zufrieden. Gut, sie schweigt, sie macht Kur und verliert allwöchentlich an Gewicht. Im vierten Monat wird sie bei Untersuchungen ohnmächtig. Das schade nichts, erklärt Behrens; mit ihrer Lunge sei er recht wohl zufrieden. Als sie aber im fünften Monat nicht mehr gehen kann, schreibt sie dies ihrem Manne nach Osten, und Behrens bekommt einen Brief von ihm, – es stand ‚Persönlich‘ und ‚Dringlich‘ darauf in markiger Schrift, ich habe ihn selbst gesehen. Ja, sagt Behrens nun und zuckt die Achseln, es scheine sich ja herauszustellen, daß sie offenbar das Klima hier nicht vertrage. Die Frau war außer sich. Das hätte er ihr doch früher sagen müssen, rief sie, sie habe es immer gefühlt, ganz und gar verdorben habe sie sich! ... Wir wollen hoffen, daß sie bei ihrem Mann im Osten wieder zu Kräften gekommen ist.“
„Ausgezeichnet! Sie erzählen so hübsch, Herr Settembrini, geradezu plastisch ist jedes Ihrer Worte. Auch über die Geschichte mit dem Fräulein, das im See badete, und der man die Stumme Schwester gab, habe ich noch oft im stillen lachen müssen. Ja, was alles vorkommt. Man lernt gewiß nicht aus. Mein eigener Fall liegt übrigens noch ganz im Ungewissen. Der Hofrat will ja eine Kleinigkeit bei mir gefunden haben, – die alten Stellen, wo ich früher schon krank war, ohne es zu wissen, habe ich selbst beim Klopfen gehört, und nun soll auch eine frische hier irgendwo zu hören sein – ha, ‚frisch‘ ist übrigens eigentümlich gesagt in diesem Zusammenhang. Aber bis jetzt handelt es sich ja nur um akustische Wahrnehmungen, und die rechte diagnostische Sicherheit werden wir erst haben, wenn ich wieder auf bin und die Durchleuchtung und photographische Aufnahme stattgefunden hat. Dann werden wir positiv Bescheid wissen.“
„Meinen Sie? – Wissen Sie, daß die photographische Platte oft Flecken zeigt, die man für Kavernen hält, während sie bloß Schatten sind, und daß sie da, wo etwas ist, zuweilen keine Flecken zeigt? Madonna, die photographische Platte! Hier war ein junger Numismatiker, der fieberte; und da er fieberte, sah man deutlich Kavernen auf der photographischen Platte. Man wollte sie sogar gehört haben! Er wurde auf Phthisis behandelt, und darüber starb er. Die Obduktion lehrte, daß seiner Lunge nichts fehlte, und daß er an irgendwelchen Kokken gestorben war.“
„Nun, hören Sie, Herr Settembrini, gleich von Obduktion reden Sie! Soweit ist es mit mir denn doch wohl noch nicht.“
„Ingenieur, Sie sind ein Schalk.“
„Und Sie sind durch und durch ein Kritiker und Zweifler, das muß man sagen! Nicht einmal an die exakte Wissenschaft glauben Sie. Zeigt denn bei Ihnen die Platte Flecken?“
„Ja, sie zeigt welche.“
„Und sind Sie wirklich etwas krank?“
„Ja, ich bin leider ziemlich krank“, erwiderte Herr Settembrini und ließ das Haupt sinken. Es trat eine Pause ein, in der er hüstelte. Hans Castorp blickte aus seiner Ruhelage auf den zum Schweigen gebrachten Gast. Ihm war, als hätte er mit seinen beiden sehr einfachen Fragen alles mögliche widerlegt und zum Verstummen gebracht, sogar die Republik und den schönen Stil. Von seiner Seite tat er nichts, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Nach einer Weile richtete Herr Settembrini sich lächelnd wieder auf.
„Erzählen Sie mir nun, Ingenieur,“ sagte er, „wie haben die Ihren die Nachricht aufgenommen?“
„Das heißt, welche Nachricht? Von der Verzögerung meiner Abreise? Ach, die Meinen, wissen Sie, die Meinen zu Hause bestehen aus drei Onkels, einem Großonkel und zwei Söhnen von ihm, zu denen ich mehr in Vetternverhältnis stehe. Weiter habe ich keine Meinen, ich bin ja sehr früh Doppelwaise geworden. Aufgenommen? Sie wissen ja noch nicht viel, nicht mehr, als ich selbst. Zu Anfang, als ich mich legen mußte, habe ich ihnen geschrieben, ich sei stark erkältet und könne nicht reisen. Und gestern, da es nun doch ein bißchen lange dauerte, habe ich noch einmal geschrieben und gesagt, Hofrat Behrens sei durch den Katarrh auf den Zustand meiner Brust aufmerksam geworden und dringe darauf, daß ich meinen Aufenthalt verlängere, bis Klarheit darüber geschaffen ist. Davon werden sie sehr ruhigen Blutes Kenntnis genommen haben.“
„Und Ihr Posten? Sie sprachen von einem praktischen Wirkungskreis, in den Sie eben einzutreten gedachten.“
„Ja, als Volontär. Ich habe gebeten, mich vorläufig auf der Werft zu entschuldigen. Sie müssen nicht denken, daß deswegen da Verzweiflung herrscht. Die können sich beliebig lange auch ohne Volontär behelfen.“
„Sehr gut! Von dieser Seite betrachtet, ist also alles in Ordnung. Phlegma auf der ganzen Linie. Man ist überhaupt phlegmatisch bei Ihnen zu Lande, nicht wahr? Aber auch energisch!“
„O ja, energisch auch, doch, sehr energisch“, sagte Hans Castorp. Er prüfte die heimatliche Lebensstimmung aus der Entfernung und fand, daß sein Unterredner sie richtig kennzeichne. „Phlegmatisch und energisch, so sind sie wohl.“
„Nun,“ fuhr Herr Settembrini fort, „sollten Sie länger bleiben, so wird es ja nicht fehlen, daß wir hier oben die Bekanntschaft Ihres Herrn Onkels – ich meine den Großonkel – machen. Zweifellos wird er heraufkommen, sich nach Ihnen umzusehen.“
„Ausgeschlossen!“ rief Hans Castorp. „Unter gar keinen Umständen! Keine zehn Pferde bringen ihn hier herauf! Mein Onkel ist stark apoplektisch, wissen Sie, er hat fast keinen Hals. Nein, der braucht einen vernünftigen Luftdruck, es würde ihm hier noch schlimmer ergehen als Ihrer Dame aus dem Osten, alle Zustände würde er kriegen.“
„Das enttäuscht mich. Apoplektisch also? Was nützen mir da Phlegma und Energie. – Ihr Herr Onkel ist wohl reich? Auch Sie sind reich? Man ist reich bei Ihnen zu Hause.“
Hans Castorp lächelte über Herrn Settembrinis schriftstellerische Verallgemeinerung, und dann blickte er wieder aus seiner Ruhelage ins Weite, in die heimatliche Sphäre, der er entrückt war. Er erinnerte sich, er versuchte, unpersönlich zu urteilen, die Distanz ermunterte und befähigte ihn dazu. Er antwortete:
„Man ist reich, ja, – oder man ist es nicht. Und wenn nicht, – desto schlimmer. Ich? Ich bin kein Millionär, aber das meine ist mir sichergestellt, ich bin unabhängig, ich habe zu leben. Sehen wir von mir mal ab. Wenn Sie gesagt hätten: Man muß reich sein da hinten, – dann hätte ich Ihnen zugestimmt. Denn angenommen, man ist nicht reich, oder hört auf, es zu sein, – dann wehe. ‚Der? Hat der denn noch Geld?‘ fragen sie ... Wörtlich so und mit genau solchem Gesicht; ich habe es oft gehört, und ich merke, daß es sich mir eingeprägt hat. Also muß es mir doch wohl sonderbar vorgekommen sein, obgleich ich gewöhnt war, es zu hören, – sonst hätte es sich mir nicht eingeprägt. Oder wie meinen Sie. Nein, ich glaube nicht, daß es zum Beispiel Ihnen, als homo humanus, zusagen würde bei uns; selbst mir, der ich doch dort zu Hause bin, ist es öfters kraß vorgekommen, wie ich nachträglich merke, obgleich ich persönlich ja nicht darunter zu leiden gehabt habe. Wer nicht die besten, teuersten Weine servieren läßt bei seinen Diners, zu dem geht man überhaupt nicht, und seine Töchter bleiben sitzen. So sind die Leute. Wie ich hier so liege und es von weitem sehe, kommt es mir kraß vor. Was brauchten Sie für Ausdrücke, – phlegmatisch und? Und energisch! Gut, aber was heißt das? Das heißt hart, kalt. Und was heißt hart und kalt? Das heißt grausam. Es ist eine grausame Luft da unten, unerbittlich. Wenn man so liegt und es von weitem sieht, kann es einem davor grauen.“
Settembrini hörte ihm zu und nickte. Er tat dies noch, als Hans Castorp vorläufig mit seiner Kritik zu Rande gekommen war und nicht mehr sprach. Dann atmete er auf und sagte:
„Ich will die besonderen Erscheinungsformen, die die natürliche Grausamkeit des Lebens innerhalb Ihrer Gesellschaft annimmt, nicht beschönigen. Einerlei, der Vorwurf der Grausamkeit bleibt ein ziemlich sentimentaler Vorwurf. Sie würden ihn an Ort und Stelle kaum erhoben haben, aus Furcht, vor sich selber lächerlich zu werden. Sie haben ihn mit Recht den Drückebergern des Lebens überlassen. Daß Sie ihn jetzt erheben, zeugt von einer gewissen Entfremdung, die ich ungern anwachsen sehen würde, denn wer sich gewöhnt, ihn zu erheben, kann ganz leicht dem Leben, der Lebensform, für die er geboren ist, verloren gehen. Wissen Sie, Ingenieur, was das heißt: ‚Dem Leben verloren gehen‘? Ich, ich weiß es, ich sehe es hier alle Tage. Spätestens nach einem halben Jahr hat der junge Mensch, der heraufkommt (und es sind fast lauter junge Menschen, die heraufkommen), keinen anderen Gedanken mehr im Kopf als Flirt und Temperatur. Und spätestens nach einem Jahr wird er auch nie wieder einen anderen fassen können, sondern jeden anderen als ‚grausam‘ oder, besser gesagt, als fehlerhaft und unwissend empfinden. Sie lieben Geschichten, – ich könnte Ihnen aufwarten. Ich könnte Ihnen von dem Sohn und Ehemann erzählen, der elf Monate hier war, und den ich kannte. Er war ein wenig älter als Sie, glaube ich, – sogar schon etwas älter. Man entließ ihn probeweise als gebessert, er kehrte nach Hause zurück in die Arme seiner Lieben; es waren keine Onkel, es waren Mutter und Gattin. Den ganzen Tag lag er mit dem Thermometer im Munde und wußte von nichts anderem. ‚Das versteht ihr nicht‘, sagte er. ‚Dazu muß man oben gelebt haben, um zu wissen, wie es sein muß. Hier unten fehlen die Grundbegriffe.‘ Es endete damit, daß seine Mutter entschied: ‚Geh nur wieder hinauf. Mit dir ist nichts mehr anzufangen.‘ Und er ging wieder hinauf. Er kehrte in die ‚Heimat‘ zurück, – Sie wissen doch, man nennt dies ‚Heimat‘, wenn man einmal hier gelebt hat. Seiner jungen Frau war er völlig entfremdet, es fehlten ihr die ‚Grundbegriffe‘, und sie verzichtete. Sie sah ein, daß er in der Heimat eine Genossin mit übereinstimmenden ‚Grundbegriffen‘ finden und dableiben werde.“
Hans Castorp schien nur mit halbem Ohre zugehört zu haben. Noch immer schaute er in die Glühlichtklarheit des weißen Zimmers hinein wie in eine Weite. Er lachte verspätet und sagte:
„Die Heimat nannte er es? Das ist wohl wirklich etwas sentimental, wie Sie sagen. Ja, Geschichten wissen Sie ohne Zahl. Ich dachte eben noch weiter nach über das, was wir von Härte und Grausamkeit sprachen, ich habe es mir in diesen Tagen schon verschiedentlich durch den Kopf gehen lassen. Sehen Sie, man muß wohl eine ziemlich dicke Haut haben, um von Natur so ganz einverstanden zu sein mit der Denkungsart der Leute da unten im Tieflande und mit solchen Fragen, wie ‚Hat der denn noch Geld?‘ und dem Gesicht, das sie dazu machen. Mir war es eigentlich nie ganz natürlich, obgleich ich nicht einmal ein homo humanus bin, – ich merke nachträglich, daß es mir immer auffallend vorgekommen ist. Vielleicht hing es mit meiner unbewußten Neigung zur Krankheit zusammen, daß es mir nicht natürlich war, – ich habe die alten Stellen ja selbst gehört, und nun hat Behrens angeblich eine frische Kleinigkeit bei mir gefunden. Es kam mir wohl überraschend, und doch habe ich mich im Grunde nicht sehr darüber gewundert. Geradezu felsenfest habe ich mich eigentlich nie gefühlt; und dann sind meine beiden Eltern so früh gestorben, – ich bin von Kind auf Doppelwaise, wissen Sie ...“
Herr Settembrini beschrieb mit Kopf, Schultern und Händen eine einheitliche Gebärde, die die Frage „Nun, und? Was weiter?“ heiter und artig anschaulich machte.
„Sie sind doch Schriftsteller,“ sagte Hans Castorp, „– Literat; Sie müssen sich auf so etwas doch verstehen und einsehen, daß man unter diesen Umständen nicht so recht derb gesinnt sein und die Grausamkeit der Leute ganz natürlich finden kann, – der gewöhnlichen Leute, wissen Sie, die herumgehen und lachen und Geld verdienen und sich den Bauch vollschlagen ... Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ...“
Settembrini verbeugte sich. „Sie wollen sagen,“ erläuterte er, „daß die frühe und wiederholte Berührung mit dem Tode eine Grundstimmung des Gemütes zeitigt, die gegen die Härten und Kruditäten des unbedachten Weltlebens, sagen wir: gegen seinen Zynismus reizbar und empfindlich macht.“
„Genau so!“ rief Hans Castorp in aufrichtiger Begeisterung. „Tadellos ausgedrückt bis aufs i-Tüpfelchen, Herr Settembrini! Mit dem Tode –! Ich wußte es ja, daß Sie als Literat ...“
Settembrini streckte die Hand gegen ihn aus, indem er den Kopf auf die Seite legte und die Augen schloß, – eine sehr schöne und sanfte Gebärde des Einhalttuns und der Bitte um weiteres Gehör. Er verharrte mehrere Sekunden in dieser Stellung, auch als Hans Castorp schon lange schwieg und in einiger Verlegenheit der Dinge wartete, die da kommen sollten. Endlich schlug er seine schwarzen Augen – die Augen der Drehorgelmänner – wieder auf und sprach:
„Gestatten Sie. Gestatten Sie mir, Ingenieur, Ihnen zu sagen und Ihnen ans Herz zu legen, daß die einzig gesunde und edle, übrigens auch – ich will das ausdrücklich hinzufügen – auch die einzig religiöse Art, den Tod zu betrachten, die ist, ihn als Bestandteil und Zubehör, als heilige Bedingung des Lebens zu begreifen und zu empfinden, nicht aber – was das Gegenteil von gesund, edel, vernünftig und religiös wäre – ihn geistig irgendwie davon zu scheiden, ihn in Gegensatz dazu zu bringen und ihn etwa gar widerwärtigerweise dagegen auszuspielen. Die Alten schmückten ihre Sarkophage mit Sinnbildern des Lebens und der Zeugung, sogar mit obszönen Symbolen, – das Heilige war der antiken Religiosität ja sehr häufig eins mit dem Obszönen. Diese Menschen wußten den Tod zu ehren. Der Tod ist ehrwürdig als Wiege des Lebens, als Mutterschoß der Erneuerung. Vom Leben getrennt gesehen, wird er zum Gespenst, zur Fratze – und zu etwas noch Schlimmerem. Denn der Tod als selbständige geistige Macht ist eine höchst liederliche Macht, deren lasterhafte Anziehungskraft zweifellos sehr stark ist, aber mit der zu sympathisieren ebenso unzweifelhaft die gräulichste Verirrung des Menschengeistes bedeutet.“
Hier schwieg Herr Settembrini. Er blieb bei dieser Allgemeinheit stehen und endete auf das bestimmteste. Es war ihm Ernst; nicht unterhaltungsweise hatte er geredet, hatte es verschmäht, seinem Partner Gelegenheit zur Anknüpfung und Gegenrede zu bieten, sondern am Ende seiner Aufstellungen die Stimme sinken lassen und einen Punkt gemacht. Er saß geschlossenen Mundes, die gekreuzten Hände im Schoß, ein Bein in der karierten Hose über das andere geschlagen, und wippte nur leicht mit dem in der Luft schwebenden Fuß, den er streng betrachtete.
Auch Hans Castorp schwieg denn also. In seinem Plumeau sitzend, wandte er den Kopf zur Wand und trommelte leicht mit den Fingerspitzen auf der Steppdecke. Er kam sich belehrt, zurechtgewiesen, ja gescholten vor, und in seinem Schweigen lag viel kindliche Verstocktheit. Die Gesprächspause dauerte ziemlich lange.
Endlich hob Herr Settembrini wieder das Haupt und sagte lächelnd:
„Erinnern Sie sich wohl, Ingenieur, daß wir einen ähnlichen Disput schon einmal geführt haben – man kann sagen: denselben? Wir plauderten damals – ich glaube, es war auf einem Spaziergang – über Krankheit und Dummheit, deren Vereinigung Sie für eine Paradoxie erklärten, und zwar aus Hochachtung vor der Krankheit. Ich nannte diese Hochachtung eine düstere Grille, mit der man den Gedanken des Menschen entehre, und Sie schienen zu meinem Vergnügen denn doch nicht ganz abgeneigt, meinen Einwand in Erwägung zu ziehen. Wir sprachen auch von der Neutralität und geistigen Unschlüssigkeit der Jugend, von ihrer Wahlfreiheit, ihrer Neigung, mit den möglichen Standpunkten Versuche anzustellen, und davon, daß man solche Versuche noch nicht als endgültige und lebensernste Optionen betrachten dürfe, – zu betrachten brauche. Wollen Sie mir –,“ und Herr Settembrini beugte sich lächelnd auf seinem Stuhle vor, die Füße nebeneinander am Boden, die zusammengelegten Hände zwischen den Knien, den Kopf gleichfalls etwas schräg vorgeschoben – „wollen Sie mir auch fernerhin,“ sagte er, und es war eine leichte Bewegung in seiner Stimme, „erlauben, Ihnen bei Ihren Übungen und Experimenten ein wenig zur Hand zu gehen und berichtigend auf Sie einzuwirken, wenn die Gefahr verderblicher Fixierungen droht?“
„Aber gewiß, Herr Settembrini!“ Hans Castorp beeilte sich, seine befangene und halb trotzige Abkehr aufzugeben, das Trommeln auf der Bettdecke zu unterlassen und sich seinem Gaste mit bestürzter Freundlichkeit zuzuwenden. „Es ist sogar außerordentlich liebenswürdig von Ihnen ... Ich frage mich wirklich, ob ich ... Das heißt, ob es sich bei mir ...“
„Ganz sine pecunia“, zitierte Herr Settembrini, indem er aufstand. „Wer will sich denn lumpen lassen.“ Sie lachten. Man hörte die äußere Doppeltür gehen, und im nächsten Augenblick wurde auch die innere geklinkt. Es war Joachim, der aus der Abendgeselligkeit zurückkehrte. Beim Anblick des Italieners errötete auch er, wie Hans Castorp für sein Teil es vorhin getan: die verbrannte Dunkelheit seines Gesichtes vertiefte sich um eine Schattierung.
„Oh, du hast Besuch“, sagte er. „Wie angenehm für dich. Ich bin aufgehalten worden. Sie haben mich zu einer Partie Bridge gepreßt, – Bridge nennen sie das nach außen hin,“ sagte er kopfschüttelnd, „und dabei war es schließlich ganz was anderes. Ich habe fünf Mark gewonnen ...“
„Daß das nur keine lasterhafte Anziehungskraft für dich bekommt“, sagte Hans Castorp. „Hm, hm. Herr Settembrini hat mir unterdessen so schön die Zeit vertrieben ... was übrigens gar kein Ausdruck ist. Es gilt allenfalls von euerem falschen Bridge, aber Herr Settembrini hat mir die Zeit so bedeutend ausgefüllt ... Als anständiger Mensch müßte man ja mit Händen und Füßen trachten, hier fortzukommen, – wo es nun schon mit falschem Bridge losgeht in euerer Mitte. Aber um Herrn Settembrini noch recht oft zu hören und mir von ihm gesprächsweise zur Hand gehen zu lassen, könnte ich beinahe wünschen, unabsehbar lange febril zu bleiben und hier bei euch festzusitzen ... Am Ende muß man mir noch eine Stumme Schwester geben, damit ich nicht mogle.“
„Ich wiederhole, Ingenieur, daß Sie ein Schalk sind“, sagte der Italiener. Er empfahl sich in den angenehmsten Formen. Mit seinem Vetter allein geblieben, seufzte Hans Castorp auf.
„Ist das ein Pädagog!“ sagte er ... „Ein humanistischer Pädagog, das muß man gestehen. Immerfort wirkt er berichtigend auf dich ein, abwechselnd in Form von Geschichten und in abstrakter Form. Und auf Dinge kommt man mit ihm zu sprechen, – nie hätte man gedacht, daß man darüber reden oder sie auch nur verstehen könnte. Und wenn ich unten im Flachlande mit ihm zusammengetroffen wäre, so würde ich sie auch nicht verstanden haben“, fügte er hinzu.
Joachim blieb um diese Zeit eine Weile bei ihm; er opferte zwei, drei Viertelstunden von seiner Abendliegekur. Manchmal spielten sie Schach auf Hans Castorps Eßtischplatte, – Joachim hatte ein Spiel von unten heraufgebracht. Später begab er sich mit Sack und Pack, das Thermometer im Munde, auf seinen Balkon, und auch Hans Castorp maß sich ein letztes Mal, während leichte Musik von näher oder fernher aus dem nächtlichen Tale heraufklang. Um zehn Uhr wurde die Liegekur beendigt; man hörte Joachim; man hörte das Ehepaar vom Schlechten Russentisch ... Und Hans Castorp nahm Seitenlage ein, in Erwartung des Schlafes.
Die Nacht war die schwierigere Hälfte des Tages, denn Hans Castorp erwachte oft und lag nicht selten stundenlang wach, sei es, weil seine nicht ganz korrekte Blutwärme ihn munter hielt, oder weil Lust und Kraft zum Schlafe durch seine derzeit völlig horizontale Lebensweise Einbuße erlitten. Dafür waren die Stunden des Schlummers von abwechslungsreichen und sehr lebensvollen Träumen belebt, denen er nachhängen konnte, während er wach lag. Und wenn die vielfache Gliederung und Einteilung des Tages diesen kurzweilig machte, so war es bei Nacht die verschwimmende Einförmigkeit der schreitenden Stunden, was in der gleichen Richtung wirkte. Nahte sich aber erst einmal der Morgen, so war es unterhaltend, das allmähliche Ergrauen und Erscheinen des Zimmers, das Hervortreten und Entschleiertwerden der Dinge zu beobachten, den Tag draußen in trüb schwelender oder heiterer Glut sich entzünden zu sehen; und eh mans gedacht, war wieder der Augenblick da, wo das handfeste Klopfen des Bademeisters das Inkrafttreten der Tagesordnung verkündete.
Hans Castorp hatte keinen Kalender auf seinen Ausflug mitgenommen, und so fand er sich in betreff des Datums nicht immer ganz genau auf dem laufenden. Dann und wann forderte er Auskunft von seinem Vetter, der aber in diesem Punkte auch nicht jederzeit seiner Sache eben sicher war. Immerhin boten die Sonntage, besonders der zweite, vierzehntägige mit Konzert, den Hans Castorp auf diese Weise verbrachte, einigen Anhalt, und so viel war gewiß, daß der September nachgerade ziemlich weit, bis gegen seine Mitte hin, vorgeschritten war. Draußen im Tale war, seitdem Hans Castorp Bettlage eingenommen, das trübe und kalte Wetter, das damals geherrscht hatte, herrlichen Hochsommertagen gewichen, ungezählten solcher Tage, einer ganzen Serie davon, so daß Joachim allmorgendlich in weißen Hosen bei seinem Vetter eingetreten war und dieser ein redliches Bedauern, ein Bedauern der Seele und seiner jungen Muskeln, über den Verlust solcher Prachtzeit nicht hatte unterdrücken können. Sogar eine „Schande“ hatte er es einmal mit leiser Stimme genannt, daß er sie solcherart versäume, – dann aber zu seiner Beschwichtigung hinzugefügt, daß er ja auf freiem Fuße auch nicht viel mehr als jetzt damit anzufangen gewußt hätte, da sich ihm ausgiebige Bewegung hier erfahrungsgemäß verbiete. Und einigen Anteil an dem warmen Schimmer dort draußen gewährte die breite, weit offene Balkontür ihm immerhin.
Aber gegen das Ende der ihm auferlegten Zurückgezogenheit schlug wieder das Wetter um. Über Nacht war es neblig und kalt geworden, das Tal hüllte sich in nasses Schneegestöber, und der trockene Hauch der Dampfheizung erfüllte das Zimmer. So war es auch an dem Tage, als Hans Castorp bei der Morgenvisite der Ärzte den Hofrat erinnerte, daß er heute drei Wochen liege, und um die Erlaubnis bat, aufzustehen.
„Was Kuckuck, sind Sie schon fertig?“ sagte Behrens. „Lassen Sie mal sehen; wahrhaftig, es stimmt. Gott, wie man alt wird. Geändert hat sich mit Ihnen ja nicht gerade viel unterdessen. Was, gestern war es normal? Ja, bis auf die 6-Uhr-Nachmittagsmessung. Na, Castorp, dann will ich ja auch nicht so sein und will Sie der menschlichen Sozietät zurückerstatten. Stehen Sie auf und wandeln Sie, Mann! In den gegebenen Grenzen und Maßen natürlich. Wir machen nächstens Ihr Innenkonterfei. Vormerken!“ sagte er im Hinausgehen zu Dr. Krokowski, indem er mit seinem riesigen Daumen über die Schulter auf Hans Castorp deutete und den bleichen Assistenten mit seinen blutigen, tränenden blauen Augen ansah ... Hans Castorp verließ die „Remise“.
Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und in Gummischuhen begleitete er seinen Vetter zum ersten Male wieder zur Bank am Wasserlauf und zurück, nicht ohne unterwegs die Frage aufzuwerfen, wie lange der Hofrat ihn wohl hätte liegen lassen, wenn er die Frist nicht als abgelaufen gemeldet hätte. Und Joachim, gebrochenen Blickes, den Mund wie zu einem hoffnungslosen „Ach“ geöffnet, machte in die Luft hinein die Gebärde des Unabsehbaren.