Das Wetter war spottschlecht, – in dieser Beziehung hatte Hans Castorp kein Glück mit seinem flüchtigen Aufenthalt in diesen Gegenden. Es schneite nicht gerade, aber es regnete tagelang schwer und häßlich, dicke Nebel erfüllten das Tal, und Gewitter von lächerlicher Überflüssigkeit – denn es war ohnehin so kalt, daß man im Speisesaal sogar geheizt hatte – entluden sich mit umständlich ausrollendem Widerhall.
„Schade“, sagte Joachim. „Ich hatte gedacht, wir wollten mal mit dem Frühstück auf die Schatzalp oder sonst etwas unternehmen. Aber es scheint, es soll nicht sein. Hoffentlich wird deine letzte Woche besser.“
Aber Hans Castorp antwortete:
„Laß nur. Ich brenne gar nicht auf Unternehmungen. Meine erste ist mir nicht sonderlich bekommen. Ich erhole mich am besten, wenn ich so in den Tag hineinlebe, ohne viel Abwechslung. Abwechslung ist für die Langjährigen. Aber ich mit meinen drei Wochen, was brauche ich Abwechslung.“
So war es, er fühlte sich ausgefüllt und beschäftigt an Ort und Stelle. Wenn er Hoffnungen hegte, so blühten Erfüllung wie Enttäuschung ihm hier, und nicht auf irgendeiner Schatzalp. Langeweile war es nicht, was ihn plagte; im Gegenteil begann er zu fürchten, das Ende seines Aufenthalts möchte allzu beschwingt erscheinen. Die zweite Woche schritt vor, zwei Drittel seiner Zeit würden bald abgelebt sein, und brach erst das dritte an, so dachte man schon an den Koffer. Die erste Auffrischung von Hans Castorps Zeitsinn war längst vorbei; schon begannen die Tage dahinzufliegen, und das taten sie, obgleich jeder einzelne von ihnen sich in immer erneuter Erwartung dehnte und von stillen, verschwiegenen Erlebnissen schwoll ... Ja, die Zeit ist ein rätselhaftes Ding, es hat eine schwer klarzustellende Bewandtnis mit ihr!
Wird es nötig sein, jene verschwiegenen Erlebnisse, die Hans Castorps Tage zugleich beschwerten und beschwingten, näher zu kennzeichnen? Aber jedermann kennt sie, es waren durchaus die gewöhnlichen in ihrer sensiblen Nichtigkeit, und in einem vernünftiger und aussichtsreicher gelagerten Fall, auf den das abgeschmackte Liedchen „Wie berührt mich wundersam“ anwendbar gewesen wäre, hätten sie sich auch nicht anders abspielen können.
Unmöglich, daß Madame Chauchat von den Fäden, die sich von einem gewissen Tische zu ihrem spannen, nicht irgend etwas hätte bemerken sollen; und daß sie etwas, ja möglichst viel davon bemerke, lag zügelloserweise durchaus in Hans Castorps Absichten. Wir nennen das zügellos, weil er sich über die Vernunftwidrigkeit seines Falles völlig im klaren war. Aber um wen es steht, wie es um ihn stand oder zu stehen begann, der will, daß man drüben von seinem Zustande Kenntnis habe, auch wenn kein Sinn und Verstand bei der Sache ist. So ist der Mensch.
Nachdem also Frau Chauchat sich zwei- oder dreimal zufällig oder unter magnetischer Einwirkung beim Essen nach jenem Tisch umgewandt hatte und jedesmal den Augen Hans Castorps begegnet war, blickte sie zum viertenmal mit Vorbedacht hinüber und begegnete seinen Augen auch diesmal. In einem fünften Fall ertappte sie ihn zwar nicht unmittelbar; er war gerade nicht auf dem Posten. Doch fühlte er es sofort, daß sie ihn ansah, und blickte ihr so eifrig entgegen, daß sie sich lächelnd abwandte. Mißtrauen und Entzücken erfüllten ihn angesichts dieses Lächelns. Wenn sie ihn für kindlich hielt, so täuschte sie sich. Sein Bedürfnis nach Verfeinerung war bedeutend. Bei sechster Gelegenheit, als er ahnte, spürte, die innere Kunde gewann, daß sie herüberblickte, tat er, als betrachte er mit eindringlichem Mißfallen eine finnige Dame, die an seinen Tisch getreten war, um mit der Großtante zu plaudern, hielt eisern durch, wohl zwei oder drei Minuten lang, und gab nicht nach, bis er sicher war, daß die Kirgisenaugen dort drüben von ihm abgelassen hatten, – eine wunderliche Schauspielerei, die Frau Chauchat nicht nur durchschauen mochte, sondern ausdrücklich durchschauen sollte, damit Hans Castorps große Feinheit und Selbstbeherrschung sie nachdenklich stimme ... Es kam zu folgendem. In einer Eßpause wandte Frau Chauchat sich nachlässig um und musterte den Saal. Hans Castorp war auf dem Posten gewesen: ihre Blicke trafen sich. Indes sie einander ansehen – die Kranke unbestimmt spähend und spöttisch, Hans Castorp mit erregter Festigkeit (er biß sogar die Zähne zusammen, während er ihren Augen standhielt) – will ihr die Serviette entfallen, ist im Begriffe, ihr vom Schoße zu Boden zu gleiten. Nervös zusammenzuckend greift sie danach, aber auch ihm fährt es in die Glieder, es reißt ihn halbwegs vom Stuhle empor, und blindlings will er über acht Meter Raum hinweg und um einen zwischenstehenden Tisch herum ihr zu Hilfe stürzen, als würde es eine Katastrophe bedeuten, wenn die Serviette den Boden erreichte ... Knapp über dem Estrich wird sie ihrer noch habhaft. Aber aus ihrer gebückten Haltung, überquer zu Boden geneigt, die Serviette am Zipfel und mit verfinsterter Miene, offenbar ärgerlich über die unvernünftige kleine Panik, der sie unterlegen und an der sie ihm, wie es scheint, die Schuld gibt, – blickt sie noch einmal nach ihm zurück, bemerkt seine Sprungstellung, seine emporgerissenen Brauen und wendet sich lächelnd ab.
Über dies Vorkommnis triumphierte Hans Castorp bis zur Ausgelassenheit. Jedoch blieb der Rückschlag nicht aus, denn Madame Chauchat wandte sich nun volle zwei Tage lang, also während der Dauer von zehn Mahlzeiten, überhaupt nicht mehr nach dem Saale um, ja, unterließ es sogar, sich bei ihrem Eintritt, wie es sonst ihre Gepflogenheiten gewesen, dem Publikum zu „präsentieren“. Das war hart. Aber da diese Unterlassungen sich ganz ohne Zweifel auf ihn bezogen, so war eine Beziehung eben doch deutlich vorhanden, wenn auch in negativer Gestalt; und das mochte genügen.
Er sah wohl, daß Joachim vollständig recht gehabt hatte mit seiner Bemerkung, es sei gar nicht leicht, hier Bekanntschaft zu machen, außer mit Tischgenossen. Denn während der einzigen knappen Stunde nach dem Diner, in der eine gewisse Geselligkeit regelmäßig statthatte, die aber oft auf zwanzig Minuten zusammenschrumpfte, saß Madame Chauchat ohne Ausnahme mit ihrer Umgebung, dem hohlbrüstigen Herrn, der humoristischen Wollhaarigen, dem stillen Dr. Blumenkohl und den hängeschultrigen Jünglingen, im Hintergrunde des kleinen Salons, der dem „Guten Russentisch“ vorbehalten schien. Auch drängte Joachim stets bald zum Aufbruch, um die Abendliegekur nicht zu verkürzen, wie er sagte, und vielleicht noch aus anderen diätetischen Gründen, die er nicht anführte, die aber Hans Castorp ahnte und achtete. Wir erhoben den Vorwurf der Zügellosigkeit gegen ihn, aber wohin seine Wünsche nun immer gehen mochten, die gesellschaftliche Bekanntschaft mit Frau Chauchat war es nicht, was er anstrebte, und mit den Umständen, die dagegen wirkten, war er im Grunde einverstanden. Die unbestimmt gespannten Beziehungen, die sein Schauen und Betreiben zwischen ihm und der Russin hergestellt hatte, waren außergesellschaftlicher Natur, sie verpflichteten zu nichts und durften zu nichts verpflichten. Denn ein beträchtliches Maß von gesellschaftlicher Ablehnung vertrug sich wohl mit ihnen, auf seiner Seite, und die Tatsache, daß er den Gedanken an „Clawdia“ dem Klopfen seines Herzens unterlegte, genügte bei weitem nicht, den Enkel Hans Lorenz Castorps in der Überzeugung wankend zu machen, daß er mit dieser Fremden, die ihr Leben getrennt von ihrem Mann und ohne Trauring am Finger an allen möglichen Kurorten verbrachte, sich mangelhaft hielt, die Tür hinter sich zufallen ließ, Brotkugeln drehte und zweifellos an den Fingern kaute, – daß er, sagen wir, in Wirklichkeit, das heißt: über jene geheimen Beziehungen hinaus, nichts mit ihr zu schaffen haben könne, daß tiefe Klüfte ihre Existenz von der seinen trennten, und daß er vor keiner Kritik, die er anerkannte, mit ihr bestehen würde. Einsichtigerweise war Hans Castorp ganz ohne persönlichen Hochmut; aber ein Hochmut allgemeiner und weiter hergeleiteter Art stand ihm ja auf der Stirn und um die etwas schläfrig blickenden Augen geschrieben, und aus ihm entsprang das Überlegenheitsgefühl, dessen er sich beim Anblick von Frau Chauchats Sein und Wesen nicht entschlagen konnte noch wollte. Es war sonderbar, daß er sich dieses weitläufigen Überlegenheitsgefühls besonders lebhaft und vielleicht überhaupt zum erstenmal bewußt wurde, als er Frau Chauchat eines Tages Deutsch sprechen hörte, – sie stand, beide Hände in den Taschen ihres Sweaters, nach Schluß einer Mahlzeit im Saale, und mühte sich, wie Hans Castorp im Vorübergehen wahrnahm, im Gespräch mit einer anderen Patientin, einer Liegehallengenossin wahrscheinlich, auf übrigens reizende Art um die deutsche Sprache, Hans Castorps Muttersprache, wie er mit plötzlichem und nie gekanntem Stolze empfand, – wenn auch nicht ohne gleichzeitige Neigung, diesen Stolz dem Entzücken aufzuopfern, womit ihr anmutiges Stümpern und Radebrechen ihn erfüllte.
Mit einem Worte: Hans Castorp sah in seinem stillen Verhältnis zu dem nachlässigen Mitgliede Derer hier oben ein Ferienabenteuer, das vor dem Tribunal der Vernunft – seines eigenen vernünftigen Gewissens – keinerlei Anspruch auf Billigung erheben konnte: hauptsächlich deshalb nicht, weil Frau Chauchat ja krank war, schlaff, fiebrig und innerlich wurmstichig, ein Umstand, der mit der Zweifelhaftigkeit ihrer Gesamtexistenz nahe zusammenhing und auch an Hans Castorps Vorsichts- und Abstandsgefühlen stark beteiligt war ... Nein, ihre wirkliche Bekanntschaft zu suchen, kam ihm nicht in den Sinn, und was das andere betraf, so würde es ja in anderthalb Wochen, wenn er bei Tunder & Wilms in die Praxis trat, wohl oder übel folgenlos beendet sein.
Vorderhand allerdings stand es so mit ihm, daß er angefangen hatte, die Gemütsbewegungen, Spannungen, Erfüllungen und Enttäuschungen, die ihm aus seinen zarten Beziehungen zu der Patientin erwuchsen, als den eigentlichen Sinn und Inhalt seines Ferienaufenthaltes zu betrachten, ganz ihnen zu leben und seine Laune von ihrem Gedeihen abhängig zu machen. Die Umstände leisteten ihrer Pflege den wohlwollendsten Vorschub, denn man lebte bei feststehender und jedermann bindender Tagesordnung auf beschränktem Raum beieinander, und wenn auch Frau Chauchat in einem anderen Stockwerk – im ersten – zu Hause war (sie hielt übrigens ihre Liegekur, wie Hans Castorp von der Lehrerin hörte, in einer gemeinsamen Liegehalle, nämlich der, die sich auf dem Dache befand, derselben, in der Hauptmann Miklosich neulich das Licht abgedreht hatte), so war doch allein schon durch die fünf Mahlzeiten, aber auch sonst auf Schritt und Tritt, vom Morgen bis zum Abend die Möglichkeit, ja Unumgänglichkeit der Begegnung gegeben. Und auch dies, ebenso wie das andere, daß keine Sorgen und Mühen die Aussicht versperrten, fand Hans Castorp famos, wenn auch solches Eingesperrtsein mit dem günstigen Ungefähr zugleich etwas Beklemmendes hatte.
Doch half er sogar noch ein bißchen nach, rechnete und stellte seinen Kopf in den Dienst der Sache, um das Glück zu verbessern. Da Frau Chauchat gewohnheitsmäßig verspätet zu Tische kam, so legte er es darauf an, ebenfalls zu spät zu kommen, um ihr unterwegs zu begegnen. Er versäumte sich bei der Toilette, war nicht fertig, wenn Joachim eintrat, um ihn abzuholen, ließ den Vetter vorangehen und sagte, er käme gleich nach. Beraten von dem Instinkt seines Zustandes, wartete er einen gewissen Augenblick ab, der ihm der richtige schien, und eilte ins erste Stockwerk hinab, wo er nicht die Treppe benutzte, die die Fortsetzung derjenigen bildete, die ihn herabgeführt hatte, sondern den Korridor fast bis ans Ende, bis zur anderen Treppe verfolgte, die einer längst bekannten Zimmertür – es war die von Nr. 7 – nahegelegen war. Auf diesem Wege, den Korridor entlang, von einer Treppe zur anderen, bot sozusagen jeder Schritt eine Chance, denn jeden Augenblick konnte die bewußte Tür sich öffnen, – und das tat sie wiederholt: krachend fiel sie hinter Frau Chauchat zu, die für ihre Person lautlos hervorgetreten war und lautlos zur Treppe glitt ... Dann ging sie vor ihm her und stützte das Haar mit der Hand, oder Hans Castorp ging vor ihr her und fühlte ihren Blick in seinem Rücken, wobei er ein Reißen in den Gliedern sowie ein Ameisenlaufen den Rücken hinunter verspürte, in dem Wunsche aber, sich vor ihr aufzuspielen, so tat, als wisse er nichts von ihr und führe sein Einzelleben in kräftiger Unabhängigkeit, – die Hände in die Rocktaschen grub und ganz unnötigerweise die Schultern rollte oder sich heftig räusperte und sich dabei mit der Faust vor die Brust schlug, – alles, um seine Unbefangenheit zu bekunden.
Zweimal trieb er die Abgefeimtheit noch weiter. Nachdem er am Eßtisch schon Platz genommen, sagte er bestürzt und ärgerlich, indem er sich mit beiden Händen betastete: „Da, ich habe mein Taschentuch vergessen! Jetzt heißt es, sich noch einmal hinaufbequemen.“ Und er ging zurück, damit er und „Clawdia“ einander begegneten, was denn doch noch etwas anderes, gefährlicher und von schärferen Reizen war, als wenn sie vor oder hinter ihm ging. Das erstemal, als er dies Manöver ausgeführt, maß sie ihn zwar aus einiger Entfernung mit den Augen, und zwar recht rücksichtslos und ohne Verschämtheit, von oben bis unten, wandte aber, herangekommen, gleichgültig das Gesicht ab und ging so vorüber, so daß das Ergebnis dieses Zusammentreffens nicht hoch zu veranschlagen war. Beim zweitenmal aber sah sie ihn an, und nicht nur von weitem, – die ganze Zeit sah sie ihn an, während des ganzen Vorganges, blickte ihm fest und sogar etwas finster in das Gesicht und drehte im Vorübergehen sogar noch den Kopf nach ihm, – es ging dem armen Hans Castorp durch Mark und Bein. Übrigens sollte man ihn nicht bedauern, da er es nicht anders gewollt und alles selbst in die Wege geleitet hatte. Aber die Begegnung ergriff ihn gewaltig, sowohl während sie sich abspielte wie namentlich noch nachträglich; denn erst als alles vorüber war, sah er recht deutlich, wie es gewesen. Noch niemals hatte er Frau Chauchats Gesicht so nahe, so in allen Einzelheiten klar erkennbar vor sich gehabt: er hatte die kurzen Härchen unterscheiden können, die sich aus dem Geflecht ihres blonden, ein wenig ins Metallisch-Rötliche spielenden und einfach um den Kopf geschlungenen Zopfes lösten, und nur ein paar Handbreit Raum war gewesen zwischen seinem Gesicht und dem ihren in seiner wundersamen, ihm aber von langer Hand her vertrauten Bildung, die ihm zusagte wie nichts in der Welt: einer Bildung, fremdartig und charaktervoll (denn nur das Fremde scheint uns Charakter zu haben), von nördlicher Exotik und geheimnisreich, zur Ergründung auffordernd, insofern ihre Merkmale und Verhältnisse nicht leicht zu bestimmen waren. Das Entscheidende war wohl die Betontheit der hochsitzenden Wangenknochenpartie: sie bedrängte die ungewohnt flach, ungewohnt weit voneinander liegenden Augen und trieb sie ein wenig ins Schiefe, während sie zugleich die Ursache abgab für das weiche Konkav der Wangen, das wiederum, von seiner Seite und mittelbar, die leicht aufgeworfene Üppigkeit der Lippen bewirkte. Dann aber waren da namentlich die Augen selbst gewesen, diese schmal und (so fand Hans Castorp) schlechthin zauberhaft geschnittenen Kirgisenaugen, deren Farbe das Graublau oder Blaugrau ferner Berge war, und die sich zuweilen, bei einem gewissen Seitenblick, der nicht zum Sehen diente, auf eine schmelzende Weise völlig ins Schleierig-Nächtige verdunkeln konnten, – Clawdias Augen, die ihn rücksichtslos und etwas finster aus nächster Nähe betrachtet hatten und nach Stellung, Farbe, Ausdruck denen Pribislav Hippes so auffallend und erschreckend ähnlich waren! „Ähnlich“ war gar nicht das richtige Wort, – es waren dieselben Augen; und auch die Breite der oberen Gesichtshälfte, die eingedrückte Nase, alles, bis auf die gerötete Weiße der Haut, die gesunde Farbe der Wangen, die bei Frau Chauchat ja aber Gesundheit nur vortäuschte und, wie bei allen hier oben, nichts als ein oberflächliches Erzeugnis der Liegekur im Freien war, – alles war ganz wie bei Pribislav, und nicht anders hatte dieser ihn angesehen, wenn sie auf dem Schulhof aneinander vorübergingen.
Das war erschütternd in jedem Sinn; Hans Castorp war begeistert von der Begegnung, und zugleich spürte er etwas wie aufsteigende Angst, eine Beklemmung derselben Art, wie das Eingesperrtsein mit dem günstigen Ungefähr auf engem Raum ihm verursachte: auch dies, daß der längst vergessene Pribislav ihm hier oben als Frau Chauchat wieder begegnete und ihn mit Kirgisenaugen ansah, war wie ein Eingesperrtsein mit Unumgänglichem oder Unentrinnbarem, – in beglückendem und ängstlichem Sinn Unentrinnbarem. Es war hoffnungsreich und zugleich auch unheimlich, ja bedrohlich, und ein Gefühl der Hilfsbedürftigkeit kam den jungen Hans Castorp an, – in seinem Inneren vollzogen sich unbestimmte und instinktmäßige Bewegungen, die man als ein Sichumsehen, als ein Tasten und Suchen nach Hilfe, nach Rat und Stütze hätte ansprechen mögen; er dachte nacheinander an verschiedene Personen, an die zu denken etwa zuträglich sein mochte.
Da war Joachim, der gute, ehrenfeste Joachim an seiner Seite, dessen Augen in diesen Monaten einen so traurigen Ausdruck angenommen, und der zuweilen so wegwerfend-heftig mit den Achseln zuckte, wie er es früher nie und nimmer getan, – Joachim mit dem „Blauen Heinrich“ in der Tasche, wie Frau Stöhr dies Gerät zu bezeichnen pflegte: mit einem so störrisch schamlosen Gesicht, daß es Hans Castorp jedesmal in der Seele entsetzte ... Der redliche Joachim also war da, der Hofrat Behrens tirrte und plagte, um fortzukommen und in der „Ebene“ oder im „Flachlande“, wie man hier die Welt der Gesunden mit einem leisen, aber deutlichen Akzent von Geringschätzung nannte, seinen ersehnten Dienst tun zu können. Damit er schneller dazu gelange und Zeit spare, mit der man hier so verschwenderisch umging, hielt er denn vorerst einmal mit aller Gewissenhaftigkeit den Kurdienst ein, – tat es um seiner baldigen Genesung willen, ohne Frage, aber, wie Hans Castorp manchmal zu spüren glaubte, ein wenig doch auch um des Kurdienstes willen, der am Ende ein Dienst war wie ein anderer, und Pflichterfüllung war Pflichterfüllung. So drängte denn Joachim abends schon nach einer Viertelstunde aus der Geselligkeit fort in die Liegekur, und das war gut, denn seine militärische Genauigkeit kam dem zivilen Sinn Hans Castorps gewissermaßen zu Hilfe, der sich sonst wohl, sinn- und aussichtsloserweise, gern noch des längeren an der Geselligkeit beteiligt hätte, mit Aussicht auf den kleinen Russensalon. Daß aber Joachim so dringlich darauf bedacht war, die Abendgeselligkeit abzukürzen, das hatte noch einen anderen, verschwiegenen Grund, auf den sich Hans Castorp genau verstand, seit er Joachims fleckiges Erblassen und jene eigentümlich klägliche Art, in der sein Mund sich in gewissen Augenblicken verzerrte, so genau verstehen gelernt hatte. Denn auch Marusja, die ewig lachlustige Marusja mit dem kleinen Rubin an ihrem schönen Finger, dem Apfelsinenparfüm und der hohen, wurmstichigen Brust war ja bei der Geselligkeit meistens zugegen, und Hans Castorp begriff, daß dieser Umstand Joachim forttrieb, weil er ihn allzusehr, auf eine schreckliche Weise anzog. War auch Joachim „eingesperrt“, – noch enger und beklemmender sogar als er selbst, da ja Marusja mit ihrem Apfelsinentüchlein zu allem Überfluß auch noch fünfmal am Tage mit ihnen zusammen an demselben Eßtisch saß? Jedenfalls hatte Joachim viel zu viel mit sich selbst zu tun, als daß sein Dasein eigentlich innerlich hilfreich für Hans Castorp hätte sein können. Seine tägliche Flucht aus der Geselligkeit wirkte zwar ehrenhaft, aber nichts weniger als beruhigend auf diesen, und dann kam es ihm augenblicksweise auch vor, als ob Joachims gutes Beispiel in bezug auf die Pflichttreue im Kurdienst, die kundige Anleitung dazu, die er ihm zuteil werden ließ, ihr Bedenkliches hätten.
Hans Castorp war noch nicht zwei Wochen an Ort und Stelle, aber es schien ihm länger, und die Tagesordnung Derer hier oben, die Joachim an seiner Seite so dienstfromm beobachtete, hatte angefangen, in seinen Augen das Gepräge einer heilig-selbstverständlichen Unverbrüchlichkeit anzunehmen, so daß ihm das Leben im Flachlande drunten, von hier gesehen, fast sonderbar und verkehrt erschien. Schon hatte er in der Handhabung der beiden Decken, mit denen man bei kalter Witterung in der Liegekur ein ebenmäßig Paket, eine richtige Mumie aus sich machte, schöne Gewandtheit gewonnen; es fehlte nicht viel, so tat er es Joachim gleich in der sicheren Fertigkeit und Kunst, sie vorschriftsmäßig um sich zu schlagen, und fast mußte er sich wundern bei dem Gedanken, daß in der Ebene drunten niemand etwas von dieser Kunst und Vorschrift wußte. Ja, das war wunderlich; – aber zugleich wunderte sich Hans Castorp darüber, daß er es wunderlich fand, und jene Unruhe, die ihn innerlich nach Rat und Stütze sich umsehen ließ, stieg neuerdings in ihm auf.
Er mußte an Hofrat Behrens denken und an seinen sine pecunia erteilten Rat, ganz so zu leben wie die Patientenschaft und sich sogar auch zu messen, – und an Settembrini, der über diesen Rat so laut in die Luft hinein gelacht und dann etwas aus der „Zauberflöte“ zitiert hatte. Ja, auch an diese beiden dachte er probeweise, um zu sehen, ob es ihm gut täte. Hofrat Behrens war ja ein weißhaariger Mann, er hätte Hans Castorps Vater sein können. Dazu war er Vorsteher der Anstalt, die höchste Autorität, – und väterliche Autorität war es, wonach der junge Hans Castorp ein unruhiges Herzensbedürfnis empfand. Und doch wollte es ihm nicht gelingen, wenn er es versuchte, des Hofrats mit kindlichem Vertrauen zu gedenken. Er hatte hier seine Frau begraben, ein Kummer, von dem er vorübergehend etwas wunderlich geworden war, und dann war er am Orte geblieben, weil das Grab ihn band, und außerdem weil er selbst etwas abbekommen hatte. War es nun vorbei damit? War er gesund und unzweideutig gesonnen, die Leute gesund zu machen, damit sie recht bald ins Flachland zurückkehren und Dienst tun könnten? Seine Backen waren beständig blau, und eigentlich sah er aus, als hätte er Übertemperatur. Aber das mochte auf Täuschung beruhen und nur die Luft schuld sein an dieser Gesichtsfarbe: Hans Castorp selber spürte hier ja tagein, tagaus eine trockene Hitze, ohne Fieber zu haben, soweit er es ohne Thermometer beurteilen konnte. Zwar, wenn man den Hofrat reden hörte, konnte man wieder zuweilen an Übertemperatur glauben; es war nicht ganz richtig mit seiner Redeweise: sie klang so forsch und fidel und gemütlich, aber es war etwas Sonderbares darin, etwas Exaltiertes, besonders wenn man die blauen Backen mit in Betracht zog, sowie die tränenden Augen, die aussahen, als weine er immer noch über seine Frau. Hans Castorp erinnerte sich dessen, was Settembrini über des Hofrats „Schwermut“ und „Lasterhaftigkeit“ ausgesagt, und daß er ihn eine „verworrene Seele“ genannt hatte. Das mochte Bosheit sein und Windbeutelei; aber er fand trotzdem, daß es nicht sonderlich stärkend sei, an Hofrat Behrens zu denken.
Aber da war denn freilich noch dieser Settembrini selbst, der Oppositionsmann, Windbeutel und „homo humanus“, wie er sich selber nannte, der es ihm mit vielen prallen Worten verwiesen hatte, Krankheit und Dummheit zusammen einen Widerspruch und ein Dilemma für das menschliche Gefühl zu nennen. Wie stand es mit ihm? Und war es zuträglich, an ihn zu denken? Hans Castorp erinnerte sich wohl, wie er in mehreren der übermäßig lebhaften Träume, die hier oben seine Nächte erfüllten, Ärgernis genommen an dem feinen, trockenen Lächeln des Italieners, das sich unter der schönen Rundung seines Schnurrbartes kräuselte, wie er ihn einen Drehorgelmann gescholten und ihn wegzudrängen versucht hatte, weil er hier störe. Aber das war im Traum gewesen, und der wachende Hans Castorp war ein anderer, weniger ungehemmt als der des Traumes. Im Wachen mochte es etwas anderes sein, – vielleicht tat er gut daran, es innerlich mit Settembrinis neuartigem Wesen zu versuchen, – mit seiner Aufsässigkeit und Kritik, obgleich sie larmoyant und geschwätzig war. Er selbst hatte sich ja einen Pädagogen genannt; offenbar wünschte er Einfluß zu nehmen; und den jungen Hans Castorp verlangte es herzlich, beeinflußt zu werden, – was ja freilich so weit nicht zu gehen brauchte, daß er sich von Settembrini bestimmen ließ, seinen Koffer zu packen und vor der Zeit abzureisen, wie jener es neulich allen Ernstes in Vorschlag gebracht hatte.
Placet experiri, dachte er bei sich lächelnd, denn so viel Latein verstand er auch noch, ohne sich einen homo humanus nennen zu dürfen. Und so hatte er denn ein Auge auf Settembrini und hörte bereitwillig und nicht ohne prüfende Aufmerksamkeit auf das, was er alles zum besten gab bei Begegnungen, wie sie bei den gemessenen Kurpromenaden zur Bank an der Bergwand oder nach „Platz“ hinab sich beiläufig ereigneten, oder bei anderer Gelegenheit, zum Beispiel wenn Settembrini nach beendeter Mahlzeit sich als erster erhob und in seinen karierten Beinkleidern, einen Zahnstocher zwischen den Lippen, durch den Saal mit den sieben Tischen schlenderte, um gegen alle Vorschrift und Übung ein wenig am Tische der Vettern zu hospitieren. Er tat es, indem er in anmutiger Haltung, mit gekreuzten Füßen, Aufstellung nahm und mit dem Zahnstocher gestikulierend plauderte. Oder er zog auch einen Stuhl heran, nahm Platz an einer Ecke zwischen Hans Castorp und der Lehrerin einerseits oder zwischen Hans Castorp und Miß Robinson andererseits und sah zu, wie die neun Tischgenossen ihren Nachtisch verzehrten, auf den er verzichtet zu haben schien.
„Ich bitte um Zutritt in diesen edlen Kreis“, sagte er, indem er den Vettern die Hand schüttelte und die übrigen Personen mit einer Verbeugung umfaßte. „Dieser Bierbrauer dort drüben ... von dem verzweiflungsvollen Anblick der Bierbrauerin zu schweigen. Aber dieser Herr Magnus, – soeben hat er einen völkerpsychologischen Vortrag gehalten. Wollen Sie hören? ‚Unser liebes Deutschland ist eine große Kaserne, gewiß. Aber es steckt viel Tüchtigkeit dahinter, und ich tausche unsere Gediegenheit für die Höflichkeit der andern nicht ein. Was hilft mir alle Höflichkeit, wenn ich vorn und hinten betrogen werde?‘ In diesem Stile. Ich bin am Rand meiner Kräfte. Dann sitzt da mir gegenüber ein armes Wesen mit Friedhofsrosen auf den Backen, eine alte Jungfer aus Siebenbürgen, die ohne Unterbrechung von ihrem ‚Schwager‘ spricht, einem Menschen, von dem niemand etwas weiß, noch wissen will. Kurzum, ich kann nicht mehr, ich habe mich aus dem Staub gemacht.“
„Fluchtartig haben Sie das Panier ergriffen,“ sagte Frau Stöhr; „das kann ich mir denken.“
„Exakt!“ rief Settembrini. „Das Panier! Ich sehe, hier weht ein anderer Wind, – kein Zweifel, ich bin vor die rechte Schmiede gekommen. Fluchtartig also ergriff ich es ... Wer so seine Worte zu setzen wüßte! – Darf ich mich nach den Fortschritten Ihrer Gesundheit erkundigen, Frau Stöhr?“
Es war entsetzlich, wie Frau Stöhr sich zierte. „Großer Gott,“ sagte sie, „es ist immer dasselbe, der Herr wissen ja selbst. Man tut zwei Schritte vorwärts und drei zurück, – hat man fünf Monate abgesessen, so kommt der Alte und legt einem ein halbes Jahr zu. Ach, es sind Tantalusqualen. Man schiebt und schiebt, und glaubt man, oben zu sein ...“
„Oh, das ist schön von Ihnen! Sie gönnen dem armen Tantalus endlich einige Abwechslung! Sie lassen ihn austauschweise einmal den berühmten Marmor wälzen! Das nenne ich wahre Herzensgüte. Aber wie ist es, Madame, es gehen geheimnisvolle Dinge mit Ihnen vor. Man hat Geschichten von Doppelgängerei, Astralleibern ... Ich habe daran nicht geglaubt bisher, aber was sich mit Ihnen zuträgt, macht mich irre ...“
„Es scheint, der Herr will seine Ergötzlichkeit mit mir treiben.“
„Durchaus nicht! Ich denke nicht daran! Beruhigen Sie mich zuerst über gewisse dunkle Seiten Ihrer Existenz, und wir werden von Ergötzlichkeit reden können! Ich mache mir gestern abend zwischen halb zehn und zehn Uhr ein wenig Bewegung im Garten – ich blicke dabei die Balkons entlang – das elektrische Lämpchen auf dem Ihren glüht durch das Dunkel. Sie befanden sich folglich in der Liegekur, nach Pflicht, Vernunft und Vorschrift. ‚Da liegt unsere schöne Kranke‘, sage ich zu mir selbst, ‚und beobachtet treulich die Verordnung, um baldigst heimkehren zu können in die Arme des Herrn Stöhr.‘ Und vor wenigen Minuten, was höre ich? Daß Sie zu derselben Stunde im cinematógrafo (Herr Settembrini sprach das Wort italienisch aus, mit dem Akzent auf der vierten Silbe) – im cinematógrafo der Kurhausarkaden gesehen worden sind und hernach noch in der Konditorei bei Süßwein und irgendwelchen Baisers, und zwar ...“
Die Stöhr wand sich in den Schultern, kicherte in ihre Serviette, stieß Joachim Ziemßen und den stillen Dr. Blumenkohl mit den Ellenbogen in die Seiten, zwinkerte listig-vertraulich und gab auf alle Weise eine stockdumme Selbstgefälligkeit zu erkennen. Sie pflegte abends zur Täuschung der Aufsicht ihr brennendes Tischlämpchen auf den Balkon hinauszustellen, sich heimlich davonzumachen und drunten im Englischen Viertel ihrer Zerstreuung nachzugehen. Ihr Mann wartete in Cannstatt auf sie. Übrigens war sie nicht der einzige Patient, der diese Praktik übte.
„... und zwar,“ fuhr Settembrini fort, „hätten Sie diese Baisers – in wessen Gesellschaft gekostet? In der Gesellschaft des Hauptmanns Miklosich aus Bukarest! Man versichert mir, er trage ein Korsett, aber mein Gott, wie wenig fällt das hier ins Gewicht! Ich beschwöre Sie, Madame, wo waren Sie? Sie sind doppelt! Jedenfalls waren Sie eingeschlafen, und während der irdische Teil Ihres Wesens einsam Liegekur machte, erlustierte sich der spirituelle in der Gesellschaft des Hauptmanns Miklosich und an seinen Baisers ...“
Frau Stöhr wand und sträubte sich, wie jemand, den man kitzelt.
„Man weiß nicht, ob man das Umgekehrte wünschen soll“, sagte Settembrini. „Daß Sie die Baisers allein genossen und die Liegekur mit dem Hauptmann Miklosich ausgeübt hätten ...“
„Hi, hi, hi ...“
„Kennen die Herrschaften die vorgestrige Geschichte?“ fragte der Italiener unvermittelt. „Jemand ist abgeholt worden, – vom Teufel geholt, oder eigentlich von seiner Frau Mutter, einer tatkräftigen Dame, sie hat mir gefallen. Es ist der junge Schneermann, Anton Schneermann, der dort vorn am Tische von Mademoiselle Kleefeld saß, – Sie sehen, sein Platz ist leer. Er wird bald genug wieder besetzt sein, ich mache mir keine Sorge, aber Anton ist fort auf Sturmesschwingen, im Hui und eh ers gedacht. Anderthalb Jahre war er hier – mit seinen sechzehn; es waren ihm eben noch sechs Monate zugelegt worden. Und was geschieht? Ich weiß nicht, wer Madame Schneermann ein Wort hatte zufließen lassen, auf jeden Fall hatte sie Wind bekommen von dem Wandel ihres Söhnchens in Baccho et ceteris. Unangemeldet erscheint sie auf dem Plan, eine Matrone – drei Köpfe größer als ich, weißhaarig und zornmütig, zieht Herrn Anton, ohne zu reden, ein paar Ohrfeigen herunter, nimmt ihn beim Kragen und setzt ihn auf die Bahn. ‚Soll er zu Grund gehen,‘ sagt sie, ‚so kann ers auch unten.‘ Und fort gehts nach Hause.“
Man lachte, soweit man in Hörweite saß, denn Herr Settembrini erzählte drollig. Er zeigte sich auf dem Laufenden über die letzten Neuigkeiten, obgleich er sich doch gegen das Gemeinschaftsleben Derer hier oben so kritisch-spöttisch verhielt. Er wußte alles. Er kannte die Namen und ungefähr auch die Lebensumstände Neuangekommener; er berichtete, daß gestern bei dem und dem oder der und der eine Rippenresektion vorgenommen worden und hatte es aus bester Quelle, daß vom Herbst an Kranke über 38,5 Grad nicht mehr aufgenommen werden würden. In der letzten Nacht hatte sich, seiner Erzählung nach, das Hündchen der Madame Capatsoulias aus Mytilene auf den Knopf des elektrischen Lichtsignals auf dem Nachttisch seiner Herrin gesetzt, woraus viel Rennerei und Tumult entstanden war, besonders, da man Madame Capatsoulias nicht allein, sondern in Gesellschaft des Assessors Düstmund aus Friedrichshagen gefunden habe. Selbst Dr. Blumenkohl mußte lächeln über diese Geschichte, die hübsche Marusja wollte in ihrem Orangentüchlein fast ersticken, und Frau Stöhr schrie gellend, indem sie die linke Brust mit beiden Händen preßte.
Aber mit den Vettern sprach Lodovico Settembrini auch von sich selbst und seiner Herkunft, sei es auf den Spaziergängen, gelegentlich der Abendgeselligkeit oder nach beendetem Mittagstisch, wenn die große Mehrzahl der Patienten den Saal schon verlassen hatte und die drei Herren noch eine Weile an ihrem Tafelende sitzenblieben, während die Saaltöchter abräumten und Hans Castorp seine Maria Mancini rauchte, deren Würze er in der dritten Woche wieder ein wenig zu schmecken begann. Aufmerksam prüfend, befremdet, aber willig sich beeinflussen zu lassen, hörte er den Erzählungen des Italieners zu, die ihm eine sonderbare, durchaus neuartige Welt eröffneten.
Settembrini sprach von seinem Großvater, der zu Mailand Advokat, hauptsächlich aber ein großer Patriot gewesen und etwas wie einen politischen Agitator, Redner und Zeitschriften-Mitarbeiter vorgestellt hatte, – auch er ein Oppositionsmann, gleich dem Enkel, doch hatte er das Ding in größerem, kühnerem Stile betrieben. Denn während Lodovico, wie er selber mit Bitterkeit bemerkte, sich darauf angewiesen fand, das Leben und Treiben im Internationalen Sanatorium Berghof zu hecheln, höhnische Kritik daran zu üben und im Namen einer schönen und tatfrohen Menschlichkeit Verwahrung dagegen einzulegen, hatte jener den Regierungen zu schaffen gemacht, gegen Österreich und die Heilige Allianz konspiriert, die damals sein zerstückeltes Vaterland im Banne dumpfer Knechtschaft gehalten hatten, und war eifriges Mitglied gewisser, über Italien verbreiteter geheimer Gesellschaften gewesen, – ein Carbonaro, wie Settembrini mit plötzlich gesenkter Stimme erklärte, als sei es auch jetzt noch gefährlich, davon zu sprechen. Kurz, dieser Giuseppe Settembrini stellte sich, nach den Erzählungen des Enkels, den beiden Zuhörern als eine dunkle, leidenschaftliche und wühlerische Existenz, als ein Rädelsführer und Verschwörer dar, und bei aller Achtung, deren sie sich höflicherweise befleißigten, gelang es ihnen nicht ganz, einen Ausdruck mißtrauischer Abneigung, ja des Widerwillens aus ihren Zügen zu verbannen. Freilich lagen die Dinge besonders: was sie hörten, war lange her, fast hundert Jahre, es war Geschichte, und aus der Geschichte, namentlich der alten, war ihnen das Wesen, von dem sie hier vernahmen, die Erscheinung verzweifelten Freiheitsmutes und unbeugsamen Tyrannenhasses theoretisch vertraut, obwohl sie nie gedacht hatten, so menschlich unmittelbar mit ihm in Berührung zu kommen. Auch hatte sich mit dem Aufrührer- und Konspirantentum dieses Großvaters, wie sie hörten, eine große Liebe zu seinem Vaterlande verbunden, das er einig und frei wissen wollte, – ja, sein umstürzlerisches Betreiben war Frucht und Ausfluß dieser achtbaren Verbundenheit gewesen, und wie sonderbar die Mischung von Aufrührerei und Patriotismus die Vettern, einen wie den andern, auch anmutete – denn sie waren gewohnt, vaterländische Gesinnung mit einem erhaltenden Ordnungssinn gleichzusetzen –, so mußten sie bei sich selber doch zugeben, daß, wie dort und damals alles sich verhalten hatte, Rebellion mit Bürgertugend und loyale Gesetztheit mit träger Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wesen mochte gleichbedeutend gewesen sein.
Aber nicht nur ein italienischer Patriot war Großvater Settembrini gewesen, sondern Mitbürger und Mitstreiter aller nach Freiheit dürstenden Völker. Denn nach dem Scheitern eines gewissen Hand- und Staatsstreichversuches, den man in Turin unternommen, und an dem er mit Wort und Tat beteiligt gewesen, nur mit genauer Not den Häschern des Fürsten Metternich entkommen, hatte er die Zeit seiner Verbannung dazu benutzt, in Spanien für die Konstitution und in Griechenland für die Unabhängigkeit des hellenischen Volkes zu kämpfen und zu bluten. Hier war Settembrinis Vater zur Welt gekommen, – weshalb er denn wohl auch ein so großer Humanist und Liebhaber des klassischen Altertums geworden war, – geboren übrigens von einer Mutter deutschen Blutes, denn Giuseppe hatte das Mädchen in der Schweiz geheiratet und bei seinen weiteren Abenteuern mit sich geführt. Später, nach zehnjähriger Landflüchtigkeit, hatte er in die Heimat zurückkehren können und zu Mailand als Advokat gewirkt, keineswegs aber darauf verzichtet, die Nation durch das gesprochene und geschriebene Wort, in Vers und Prosa zur Freiheit und zur Herstellung der einheitlichen Republik aufzurufen, staatsumwälzende Programme mit leidenschaftlich diktatorischem Schwung zu entwerfen und klaren Stiles die Vereinigung der befreiten Völker zur Errichtung des allgemeinen Glückes zu verkünden. Eine Einzelheit, deren Settembrini, der Enkel, erwähnte, machte besonderen Eindruck auf den jungen Hans Castorp: daß nämlich Großvater Giuseppe sich zeit seines Lebens ausschließlich in schwarzer Trauerkleidung unter seinen Mitbürgern gezeigt habe, denn er sei ein Leidtragender, habe er gesagt, um Italien, sein Vaterland, das in Elend und Knechtschaft dahinschmachte. Bei dieser Nachricht mußte Hans Castorp, wie er es übrigens schon vorher ein paarmal vergleichend getan hatte, an seinen eigenen Großvater denken, der ebenfalls, solange der Enkel ihn kannte, sich allezeit schwarz getragen hatte, aber in gründlich anderem Sinne, als dieser Großvater hier: an die altmodische Tracht dachte er, mit der Hans Lorenz Castorps eigentliches, einer vergangenen Zeit angehöriges Wesen sich behelfsweise und unter Andeutung seiner Unzugehörigkeit der Gegenwart angepaßt hatte, bis es im Tode zu seiner wahren und angemessenen Gestalt (mit der Tellerkrause) feierlich eingegangen war. Zwei auffallend verschiedenartige Großväter waren das wahrhaftig gewesen! Hans Castorp dachte darüber nach, indes seine Augen sich festsahen und er vorsichtig den Kopf schüttelte, so, daß es ebensogut als ein Zeichen der Bewunderung für Giuseppe Settembrini, wie auch als Befremdung und Verneinung gedeutet werden konnte. Auch hütete er sich redlich, das Fremdartige zu verurteilen, sondern hielt sich an, es bei Vergleich und Feststellung bewenden zu lassen. Er sah den schmalen Kopf des alten Hans Lorenz im Saale sich sinnend über das schwachgoldene Rund der Taufschale, des stehend-wandernden Erbstückes neigen, – gerundeten Mundes, denn seine Lippen bildeten die Vorsilbe „Ur“, diesen dumpfen und frommen Laut, der an Orte erinnerte, an denen man in eine ehrerbietig vorwärts wiegende Gangart verfiel. Und er sah Giuseppe Settembrini, die Trikolore im Arm, mit geschwungenem Säbel und den schwarzen Blick gelobend gen Himmel gewandt, einer Schar von Freiheitskämpfern voran gegen die Phalanx des Despotismus stürmen. Beides hatte wohl seine Schönheit und Ehre, dachte er, um Billigkeit desto mehr bemüht, als er sich persönlich oder halb persönlich ein wenig Partei fühlte. Denn Großvater Settembrini hatte ja um politische Rechte gestritten, seinem eigenen Großvater aber oder doch dessen Vorvätern hatten ursprünglich alle Rechte gehört, und die Krapüle hatte sie ihnen im Laufe von vier Jahrhunderten mit Gewalt und Redensarten entrissen ... Da waren sie nun beide immer in Schwarz gegangen, der Großvater im Norden und der im Süden, und beide zu dem Zweck, einen strengen Abstand zwischen sich und die schlechte Gegenwart zu legen. Aber der eine hatte es aus Frömmigkeit getan, der Vergangenheit und dem Tode zu Ehren, denen sein Wesen angehörte; der andere dagegen aus Rebellion und zu Ehren eines frömmigkeitsfeindlichen Fortschritts. Ja, das waren zwei Welten oder Himmelsgegenden, dachte Hans Castorp, und wie er gleichsam zwischen ihnen stand, während Herr Settembrini erzählte, und prüfend bald in die eine, bald in die andere blickte, so, meinte er, habe er es schon einmal erfahren. Er erinnerte sich einer einsamen Kahnfahrt im Abendzwielicht auf einem holsteinischen See, im Spätsommer, vor einigen Jahren. Um sieben Uhr war es gewesen, die Sonne war schon hinab, der annähernd volle Mond im Osten über den buschigen Ufern schon aufgegangen. Da hatte zehn Minuten lang, während Hans Castorp sich über die stillen Wasser dahinruderte, eine verwirrende und träumerische Konstellation geherrscht. Im Westen war heller Tag gewesen, ein glasig nüchternes, entschiedenes Tageslicht; aber wandte er den Kopf, so hatte er in eine ebenso ausgemachte, höchst zauberhafte, von feuchten Nebeln durchsponnene Mondnacht geblickt. Das sonderbare Verhältnis hatte wohl eine knappe Viertelstunde bestanden, bevor es sich zugunsten der Nacht und des Mondes ausgeglichen, und mit heiterem Staunen waren Hans Castorps geblendete und vexierte Augen von einer Beleuchtung und Landschaft zur anderen, vom Tage in die Nacht und aus der Nacht wieder in den Tag gegangen. Daran also mußte er denken.
Ein großer Rechtsgelehrter, dachte er ferner, konnte Advokat Settembrini bei seiner Lebensführung und seinem ausgedehnten Betreiben nicht gut geworden sein. Aber der allgemeine Grundsatz des Rechtes hatte ihn, wie der Enkel glaubhaft machte, von Kindesbeinen bis an sein Lebensende beseelt, und Hans Castorp, obgleich zur Zeit nicht eben scharf im Kopfe und von einer sechsgängigen Berghof-Mahlzeit organisch stark in Anspruch genommen, bemühte sich, zu verstehen, wie Settembrini es meinte, wenn er diesen Grundsatz „die Quelle der Freiheit und des Fortschritts“ nannte. Unter dem letzteren hatte Hans Castorp bisher so etwas verstanden, wie die Entwicklung des Hebezeug-Wesens im neunzehnten Jahrhundert; und er fand denn auch, daß Herr Settembrini solche Dinge nicht niedrig einschätzte, was offenbar auch sein Großvater nicht getan. Der Italiener erzeigte dem Vaterlande seiner beiden Zuhörer hohe Ehre in Hinsicht darauf, daß dort das Schießpulver erfunden worden sei, welches den Harnisch des Feudalismus zum Gerümpel gemacht habe, sowie die Druckerpresse: denn diese habe die demokratische Verbreitung der Ideen – das heiße: die Verbreitung der demokratischen Ideen ermöglicht. Er lobte also Deutschland in diesem Betracht und, soweit die Vergangenheit in Frage kam, wenn er auch seinem eigenen Lande billig die Palme glaubte reichen zu sollen, da es, während die anderen Völker noch in Aberglauben und Knechtschaft dämmerten, als erstes die Fahne der Aufklärung, Bildung und Freiheit entrollt habe. Wenn er aber der Technik und dem Verkehr, Hans Castorps persönlichem Arbeitsgebiet, viel Reverenz erwies, wie er es schon bei seiner ersten Begegnung mit den Vettern bei der Bank am Abhange getan, so schien es doch nicht um dieser Mächte selbst willen zu geschehen, sondern in Anbetracht ihrer Bedeutung für die moralische Vervollkommnung der Menschen, – denn eine solche Bedeutung erklärte er freudig ihnen beizumessen. Indem die Technik, sagte er, mehr und mehr die Natur sich unterwerfe, durch die Verbindungen, welche sie schaffe, den Ausbau der Straßennetze und Telegraphen, die klimatischen Unterschiede besiege, erweise sie sich als das verlässigste Mittel, die Völker einander nahe zu bringen, ihre gegenseitige Bekanntschaft zu fördern, menschlichen Ausgleich zwischen ihnen anzubahnen, ihre Vorurteile zu zerstören und endlich ihre allgemeine Vereinigung herbeizuführen. Das Menschengeschlecht komme aus Dunkel, Furcht und Haß, jedoch auf glänzendem Wege bewege es sich vorwärts und aufwärts einem Endzustande der Sympathie, der inneren Helligkeit, der Güte und des Glückes entgegen, und auf diesem Wege sei die Technik das förderlichste Vehikel, sagte er. Aber indem er so sprach, faßte er in einer Auslassung des Atems Kategorien zusammen, die Hans Castorp bisher nur weit voneinander getrennt zu denken gewohnt gewesen war. Technik und Sittlichkeit! sagte er. Und dann sprach er wahrhaftig vom Heilande des Christentums, der das Prinzip der Gleichheit und der Vereinigung zuerst offenbart, worauf die Druckerpresse die Verbreitung dieses Prinzipes mächtig gefördert und endlich die große französische Staatsumwälzung es zum Gesetz erhoben habe. Das mutete den jungen Hans Castorp, wenn auch aus unbestimmten Gründen, so doch in der Tat auf das allerbestimmteste konfus an, obwohl Herr Settembrini es in so klare und pralle Worte faßte. Einmal, erzählte dieser, einmal in seinem Leben, und zwar zu Beginn seines besten Mannesalters, habe sein Großvater sich recht von Herzen glücklich gefühlt, und das sei zur Zeit der Pariser Juli-Revolution gewesen. Laut und öffentlich habe er damals das Wort gesprochen, daß alle Menschen dereinst jene drei Tage von Paris neben die sechs Tage der Weltschöpfung stellen würden. Hier konnte Hans Castorp nicht umhin, mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und sich bis in den Grund seiner Seele zu wundern. Daß man drei Sommertage des Jahres 1830, an welchen die Pariser sich eine neue Verfassung gegeben, neben die sechs stellen solle, in denen Gott der Herr die Feste von den Wassern geschieden und die ewigen Himmelslichter sowie Blumen, Bäume, Vögel, Fische und alles Leben geschaffen hatte, schien ihm stark, und noch nachher, allein mit seinem Vetter Joachim, ausdrücklich und gesprächsweise, fand er es überaus stark, ja geradezu anstößig.
Aber er war guten Willens, sich beeinflussen zu lassen, im Sinne des Wortes, daß es angenehm sei, Versuche anzustellen, und so legte er dem Proteste, den seine Pietät und sein Geschmack gegen die Settembrinische Anordnung der Dinge erhoben, Zügel an, in der Erwägung, daß, was ihm lästerlich vorkam, Kühnheit genannt werden könne und, was ihn abgeschmackt anmutete, Hochherzigkeit und edelmütiger Überschwang wenigstens dort und damals gewesen sein mochte: so zum Beispiel, wenn Großvater Settembrini die Barrikaden den „Volksthron“ genannt und erklärt hatte, es gelte, „die Pike des Bürgers am Altar der Menschheit zu weihen“.
Hans Castorp wußte, warum er Herrn Settembrini zuhörte, nicht ausdrücklich, aber er wußte es. Etwas wie Pflichtgefühl war dabei, außer jener Ferien-Verantwortungslosigkeit des Reisenden und Hospitanten, der sich gegen keinen Eindruck verhärtet und die Dinge an sich herankommen läßt, in dem Bewußtsein, daß er morgen oder übermorgen wieder die Flügel lüften und in die gewohnte Ordnung zurückkehren wird: – etwas wie eine Gewissensvorschrift also, und zwar, um genau zu sein, die Vorschrift und Mahnung eines irgendwie schlechten Gewissens, bestimmte ihn, dem Italiener zuzuhören, ein Bein über das andere geschlagen und an seiner Maria Mancini ziehend, oder wenn sie zu dritt vom Englischen Viertel gegen den Berghof emporstiegen.
Nach Settembrinis Anordnung und Darstellung lagen zwei Prinzipien im Kampf um die Welt: die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Prinzip des Beharrens und dasjenige der gärenden Bewegung, des Fortschritts. Man konnte das eine das asiatische Prinzip, das andere aber das europäische nennen, denn Europa war das Land der Rebellion, der Kritik und der umgestaltenden Tätigkeit, während der östliche Erdteil die Unbeweglichkeit, die untätige Ruhe verkörperte. Gar kein Zweifel, welcher der beiden Mächte endlich der Sieg zufallen würde, – es war die der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung. Denn immer neue Völker raffte die Menschlichkeit auf ihrem glänzenden Wege mit fort, immer mehr Erde eroberte sie in Europa selbst und begann, nach Asien vorzudringen. Doch fehlte noch viel an ihrem vollen Siege, und noch große und edelmütige Anstrengungen waren von den Wohlgesinnten, von denen, welche das Licht erhalten hatten, zu machen, bis nur erst der Tag kam, wo auch in den Ländern unseres Erdteils, die in Wahrheit weder ein achtzehntes Jahrhundert noch ein 1789 erlebt hatten, die Monarchien und Religionen zusammenstürzen würden. Aber dieser Tag werde kommen, sagte Settembrini und lächelte fein unter seinem Schnurrbart, – er werde, wenn nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen und anbrechen als die Morgenröte der allgemeinen Völkerverbrüderung im Zeichen der Vernunft, der Wissenschaft und des Rechtes; die heilige Allianz der bürgerlichen Demokratie werde er bringen, das leuchtende Gegenstück zu jener dreimal infamen Allianz der Fürsten und Kabinette, deren persönlicher Todfeind Großvater Giuseppe gewesen, – mit einem Worte die Weltrepublik. Zu diesem Endziele aber war vor allem erforderlich, das asiatische, das knechtische Prinzip der Beharrung im Mittelpunkte und Lebensnerv seines Widerstandes zu treffen, nämlich in Wien. Österreich gelte es aufs Haupt zu schlagen und zu zerstören, einmal um Rache zu nehmen für Vergangenes und dann, um die Herrschaft des Rechtes und Glückes auf Erden in die Wege zu leiten.
Diese letzte Wendung und Schlußfolgerung von Settembrinis wohllautenden Ergießungen interessierte Hans Castorp nun gar nicht mehr, sie mißfiel ihm, ja berührte ihn peinlich wie eine persönliche oder nationale Verbissenheit, sooft sie wiederkehrte, – von Joachim Ziemßen zu schweigen, der, wenn der Italiener in dieses Fahrwasser geriet, mit verfinsterten Brauen den Kopf abwandte und nicht mehr zuhörte, auch wohl zum Kurdienste mahnte oder das Gespräch abzulenken suchte. Auch Hans Castorp fühlte sich nicht gehalten, solchen Abwegigkeiten Aufmerksamkeit zu schenken, – offenbar lagen sie außer der Grenze dessen, wovon versuchsweise sich beeinflussen zu lassen eine Gewissensvorschrift ihn mahnte, und zwar so vernehmbar mahnte, daß er selbst, wenn Herr Settembrini sich zu ihnen setzte oder im Freien sich ihnen anschloß, ihn aufforderte, sich über seine Ideen zu äußern.
Diese Ideen, Ideale und Willensstrebungen, bemerkte Settembrini, seien Familienüberlieferung in seinem Hause. Denn alle drei hätten sie ihnen ihr Leben und ihre Geisteskräfte gewidmet, der Großvater, Vater und Enkel, ein jeder nach seiner Art: der Vater nicht weniger als der Großvater Giuseppe, obgleich er nicht, wie dieser, ein politischer Agitator und Freiheitskämpfer, sondern ein stiller und zarter Gelehrter, ein Humanist an seinem Pulte gewesen sei. Was aber sei denn der Humanismus? Liebe zum Menschen sei er, nichts weiter, und damit sei er auch Politik, sei er auch Rebellion gegen alles, was die Idee des Menschen besudele und entwürdige. Man habe ihm eine übertriebene Schätzung der Form zum Vorwurf gemacht; aber auch die schöne Form pflege er lediglich um der Würde des Menschen willen, im glänzenden Gegensatze zum Mittelalter, das nicht allein in Menschenfeindschaft und Aberglauben, sondern auch in schimpfliche Formlosigkeit versunken gewesen sei, und von allem Anbeginn habe er die Sache des Menschen, die irdischen Interessen, habe er Gedankenfreiheit und Lebensfreude verfochten und dafür gehalten, daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sei. Prometheus! Er sei der erste Humanist gewesen, und er sei identisch mit jenem Satanas, auf den Carducci seine Hymne gedichtet ... Ach, mein Gott, die Vettern hätten den alten Kirchenfeind zu Bologna gegen die christliche Empfindsamkeit der Romantiker sollen sticheln und wettern hören! Gegen Manzonis heilige Gesänge! Gegen die Schatten- und Mondscheinpoesie des Romanticismo, den er der „bleichen Himmelsnonne Luna“ verglichen habe! Per Bacco, es sei ein Hochgenuß gewesen! Und hören sollen hätten sie auch, wie er, Carducci, Dante ausgelegt habe, – als Bürger einer Großstadt habe er ihn gefeiert, der gegen Askese und Weltverneinung die Tatkraft, die umwälzende und weltverbessernde, verteidigt habe. Denn nicht den kränklichen und mystagogischen Schatten der Beatrice habe der Dichter mit dem Namen der „Donna gentile e pietosa“ geehrt; so heiße vielmehr seine Gattin, die im Gedicht das Prinzip der diesseitigen Erkenntnis, der praktischen Lebensarbeit verkörpere ...
Da hatte Hans Castorp nun auch dies und das über Dante gehört, und zwar aus bester Quelle. Ganz fest verließ er sich nicht darauf, in Anbetracht der Windbeutelei des Vermittlers; aber hörenswert war es immerhin, daß Dante ein geweckter Großstädter gewesen sei. Und dann hörte er weiter zu, wie Settembrini von sich selber sprach und erklärte, in seiner, des Enkels Lodovico, Person nun aber hätten die Tendenzen seiner unmittelbaren Vorfahren, die staatsbürgerliche des Großvaters und die humanistische des Vaters, sich vereinigt, indem er nämlich ein Literat, ein freier Schriftsteller geworden sei. Denn die Literatur sei nichts anderes als eben dies: sie sei die Vereinigung von Humanismus und Politik, welche sich um so zwangloser vollziehe, als ja Humanismus selber schon Politik und Politik Humanismus sei ... Hier horchte Hans Castorp auf und gab sich Mühe, es recht zu verstehen; denn er durfte nun hoffen, Bierbrauer Magnussens ganze Unbelehrtheit einzusehen und zu erfahren, inwiefern die Literatur denn doch noch etwas anderes sei als „schöne Charaktere“. Ob, fragte Settembrini, seine Zuhörer je von Herrn Brunetto gehört hätten, Brunetto Latini, Stadtschreiber von Florenz um 1250, der ein Buch über die Tugenden und die Laster geschrieben? Dieser Meister zuerst habe den Florentinern Schliff gegeben und sie das Sprechen gelehrt sowie die Kunst, ihre Republik nach den Regeln der Politik zu lenken. „Da haben Sie es, meine Herren!“ rief Settembrini. „Da haben Sie es!“ Und er sprach vom „Worte“, vom Kultus des Wortes, der Eloquenz, die er den Triumph der Menschlichkeit nannte. Denn das Wort sei die Ehre des Menschen, und nur dieses mache das Leben menschenwürdig. Nicht nur der Humanismus, – Humanität überhaupt, alle Menschenwürde, Menschenachtung und menschliche Selbstachtung sei untrennbar mit dem Worte, mit Literatur verbunden – („Siehst du wohl,“ sagte Hans Castorp später zu seinem Vetter, „siehst du wohl, daß es in der Literatur auf die schönen Worte ankommt? Ich habe es gleich gemerkt.“), – und so sei auch die Politik mit ihr verbunden, oder vielmehr: sie gehe hervor aus dem Bündnis, der Einheit von Humanität und Literatur, denn das schöne Wort erzeuge die schöne Tat. „Sie hatten in Ihrem Lande,“ sagte Settembrini, „vor zweihundert Jahren einen Dichter, einen prächtigen alten Plauderer, der großes Gewicht auf eine schöne Handschrift legte, weil er meinte, daß eine solche zum schönen Stile führe. Er hätte ein wenig weiter gehen sollen und sagen, daß ein schöner Stil zu schönen Handlungen führe.“ Schön schreiben, das heiße beinahe auch schon schön denken, und von da sei nicht weit mehr zum schönen Handeln. Alle Sittigung und sittliche Vervollkommnung entstamme dem Geiste der Literatur, diesem Geiste der Menschenehre, welcher zugleich auch der Geist der Humanität und der Politik sei. Ja, dies alles sei eins, sei ein und dieselbe Macht und Idee, und in einen Namen könne man es zusammenfassen. Wie dieser Name laute? Nun, dieser Name setze sich aus vertrauten Silben zusammen, deren Sinn und Majestät die Vettern aber gewiß so recht noch niemals begriffen hätten, – er laute: Zivilisation! Und indem Settembrini dies Wort von den Lippen ließ, warf er seine kleine, gelbe Rechte empor, wie jemand, der einen Toast ausbringt.
Dies alles fand der junge Hans Castorp hörenswert, zwar unverbindlicherweise und mehr zum Versuch, doch hörenswert auf alle Fälle fand er, daß es sei, und sprach sich in diesem Sinne auch gegen Joachim Ziemßen darüber aus, der aber gerade das Thermometer im Munde hatte und also nur undeutlich antworten konnte, danach auch allzu beschäftigt war, die Ziffer abzulesen und in die Tabelle einzutragen, um sich zu Settembrinis Aspekten äußern zu können. Hans Castorp, wie wir sagten, nahm gutwillig Kenntnis davon und öffnete ihnen zur Prüfung sein Inneres: woraus vor allem erhellt, wie vorteilhaft der wachende Mensch sich von dem blöde träumenden unterscheidet, – als welcher Hans Castorp Herrn Settembrini schon mehrmals ins Gesicht hinein einen Drehorgelmann geschimpft und ihn aus allen Kräften von der Stelle zu drängen versucht hatte, weil er „hier störe“; als Wachender aber hörte er ihm höflich und aufmerksam zu und suchte rechtlich gesinnt die Widerstände auszugleichen und niederzuhalten, die sich gegen des Mentors Anordnungen und Darstellungen in ihm erheben wollten. Denn daß gewisse Widerstände in seiner Seele sich regten, soll nicht geleugnet werden: es waren solche, die von früher her, ursprünglich und immer schon darin vorhanden gewesen, wie auch solche, die sich aus der gegenwärtigen Sachlage besonders ergaben, aus seinen teils mittelbaren, teils verschwiegenen Erlebnissen bei Denen hier oben.
Was ist der Mensch, wie leicht betrügt sich doch sein Gewissen! Wie versteht er es, noch aus der Stimme der Pflicht die Erlaubnis zur Leidenschaft herauszuhören! Aus Pflichtgefühl, um der Billigkeit, des Gleichgewichts willen hörte Hans Castorp Herrn Settembrini zu und prüfte wohlmeinend seine Aspekten über die Vernunft, die Republik und den schönen Stil, bereit, sich davon beeinflussen zu lassen. Desto statthafter aber fand er es hinterdrein, seinen Gedanken und Träumen wieder in anderer, in entgegengesetzter Richtung freien Lauf zu lassen, – ja, um unseren ganzen Verdacht oder unsere ganze Einsicht auszusprechen, so hatte er wohl gar Herrn Settembrini nur zu dem Zwecke gelauscht, von seinem Gewissen einen Freibrief zu erlangen, den es ihm ursprünglich nicht hatte ausfertigen wollen. Was oder wer aber befand sich auf dieser anderen, dem Patriotismus, der Menschenwürde und der schönen Literatur entgegengesetzten Seite, wohin Hans Castorp sein Sinnen und Betreiben nun wieder lenken zu dürfen glaubte? Dort befand sich ... Clawdia Chauchat, – schlaff, wurmstichig und kirgisenäugig; und indem Hans Castorp ihrer gedachte (übrigens ist „gedenken“ ein allzu gezügelter Ausdruck für seine Art, sich ihr innerlich zuzuwenden), war es ihm wieder, als säße er im Kahn auf jenem holsteinischen See und blicke aus der glasigen Tageshelle des westlichen Ufers vexierten und geblendeten Auges hinüber in die nebeldurchsponnene Mondnacht der östlichen Himmel.